Domitilla – Kritik

Zeb Ejiros Home-Video-Hit Domitilla (1996) um eine Frau, die sich in Lagos durchschlägt, ist einer der erfolgreichsten Filme des neuen nigerianischen Kinos. Außerdem eine Oper der geklauten Musik, ein intimes Porträt, ein großes Drama. Spoiler-Alarm: Es gibt einen Gott.


Ihre Familie nennt sie Ngozi. Brave Männer kennen sie als Cynthia. Domitilla ist sie nur, wenn sie mit ihren Freundinnen das Anschaffsträßchen in der Metropole Lagos auf und ab geht.

 

Auch in Nigeria ist Domitilla ein seltener Name. Die vielen Fans des Films rätseln darüber; er wurde bald ein Synonym für Straßenmädchen. Vielleicht lässt er an Cinderella denken und auch an Pretty Woman. Zurück geht er auf eine vornehme Römerin im 1. Jahrhundert n. Chr. Sie war mit einem Adligen verlobt, verliebte sich aber in Gott und wurde heimlich Nonne. Ihr Ex-Verlobter ließ sie dafür zu Tode foltern; danach sprach man sie heilig. Auch in Fellinis Roma gab es eine Domitilla. Domitilla erinnert mich an einige italienische Filme.

All diese Songs

 

Die herzbewegende, gestohlene Musik ist wie in einer Oper eingesetzt. Man meint, gleich fangen alle an zu singen. Morricones „Chi mai“ aus Der Profi (Le Professionel, 1981) begleitet die Hauptfigur wie ein trauriger Engel. Donna Summers „Summer Fever“: ein sexuelles Parfüm. Badalamentis „Twin Peaks“: Erschöpfung, Bitternis, die harte, böse Wirklichkeit. Mehrmals mahnt eine soulige Frauenstimme in einer mir unbekannten Discoballade: „One, two, three, your dream is your foundation. Like a flowing river, it’s got to go on and on“, und drei Chorgirls ergänzen wie Schicksalsgöttinnen: „Remember, remember.“ Alka Yagniks „Gali mein chand“ ist ein filigranes Bollywoodtanzlied und betont die neckische, mädchenhaft verspielte Seite der Protagonistin. Die Titelmelodie schließlich, im charmant verwehten, westafrikanischen Synthiepopsound, ist eine Huldigung: „Domitilla, hej“ singt Abay Esho, ein nigerianischer Filmmusiker und Soap-Filmemacher, rau und warm, wie aus einem tiefen Wissen über das schwierige Außen- und das wunde Innenleben der Hauptfigur.

Domitilla ist all diese Songs, so wie sie all ihre falschen Namen, Verkleidungen und heimlich parallel geführten Leben ist. Anfangs hielt ich sie für mehrere Frauen. Ich war verwirrt, weil sie zwischen verschiedenen Identitäten und Stilen hin und her wechselt. Sie hat wippende, goldbraune Löckchen und ist eine fröhliche Sexarbeiterin. Sie hat eine dezente, glatte Bob-Frisur und ist eine immer müde, unscheinbare Bürokraft. Sie hat krauses, manchmal streng nach hinten gebundenes, schwarzes Haar und ist eine geheimnisvolle, traurige Person von edler, puristischer Schönheit.

Facetten und Fassaden, zerbrechend

 

Die Establishing Shots von sehr armen und sehr reichen Hausfassaden – Slumbuden, prahlerischen Villen, Wolkenkratzern – reißen die Kontraste und Konflikte an. Lagos ist ein Moloch. Jeder versucht seinen Aufstieg, boxt sich durch – und scheitert oft ganz fürchterlich.

In der bauchig warmen Nacht von Lagos’ Hafenviertel schlendern Domitilla (Annette Njemanze) und ihre Kolleginnen Judith (Sandra Achums), Jenny (Kate Henshaw) und Anita (Ada Ameh) professionell hüftbetont und lässig auf flanierende Männer und die neugierige Kamera zu. Sie bieten sich an, gespielte, coole Gleichgültigkeit in den Gesichtern; die Gliedmaßen wirken, als wären sie zu schwer und nur achtlos, locker in die Körper eingehängt. Freund Tony kommt fröhlich mit der Nachricht, dass gerade „weiße“ Kunden im Anmarsch sind – Matrosen, „aber aus China, nicht aus dem Libanon“. Die Mädchen freuen sich, weil die die Preise nicht so runterhandeln.

 

Doch diese Leichtlebigkeit ist nur eine der Facetten und Fassaden. Die hoffnungsfrohen Träume der Freundinnen zerbrechen immer mehr. Sie gehören zur Schwesternschaft der tapferen und tüchtigen, armen, sexy und nicht auf den Mund gefallenen Working Girls im Pop der 1980/1990er Jahre. Sie sind professionell und spöttisch. Sie mögen Kleider, Männer, Partys. Sie haben Spaß und Zank und steigern sich temperamentvoll in ihre Emotionen (die burleske, volkskomödiantische Drastik, das ironische Kokettieren und expressive Gestikulieren macht den Darstellerinnen dabei sichtlich Spaß). Im Inneren jedoch sind sie zarte und verletzliche Menschen, und ihr Broterwerb zehrt an ihnen. Lange können sie das nicht machen – das sagen sie sich immer wieder. Sie hoffen auf Auswege, wissend, dass es da nicht viele gibt. Manchmal gehen sie in die Kirche, beten um Rettung.

Karrierefrau für eine Party

 

Domitilla kommt kaum zum Schlafen, weil sie am Tag auch noch in einem Büro arbeitet. Sie muss Geld für ihren gelähmten Vater und ihre jüngeren Geschwister dazuverdienen, die in einem Slum leben. Wenn sie laut und erbost mit ihnen schimpft, weil sie fahrlässig mit ihrem Geld umgehen, erinnert mich das ein bisschen an Sophia Loren. Oder auch an Whitney Houston, über die vor kurzem ein Special im Fernsehen lief, bei dem ich fasziniert hängen geblieben bin.

Domitilla ist überlastet und erschöpft. So geht es auch den anderen. Sie sind am Limit und müssen es verstecken. Keine nennt ihren Freiern ihren richtigen Namen oder Fremden ihren richtigen Beruf. Einem unwissend in sie verliebten Mann stellt Domitilla sich und ihre Freundinnen als Karrierefrauen vor: „Vivian“, die Rechtsanwältin, „Valery“, die Bankerin, „Cynthia“, die Kosmetikerin… so gehen sie auf eine Party voller reicher Businessmenschen, wo niemand sie kennt. Sie geben sich geheimnisvoll. Dem stämmigen, humorvollen, generösen Gastgeber und Politiker Jim (Enebeli Elebuwa) macht diese Ungewissheit Spaß. Er flirtet und stellt sie seinen Gästen augenzwinkernd als seine Nichten vor. „Domitilla! I like the sound of that name. There’s something grand about it…“

Ich bin gerne mit auf dieser Party. Synthesizer imitieren leichtherzig traditionelle afrikanische Instrumente, und es ist heiß, auch nachts noch. Die Männer tragen knöchellange Gewänder aus luftdurchlässiger Spitze, so dass man sehen kann, dass sie darunter nichts als große Unterhosen tragen.

Blumenkleid vor Pistazienwand

 

Doch Unglück geschieht. Ich will es nicht spoilern. Aber die Freundinnen sind verzweifelt, voller Schmerz, sie weinen. Eins ist klar: Das ist jetzt der Moment, um aufzuhören. Anita eröffnet resolut mit ihrem dünnen, lustigen Stammkunden Tony ein Plastikwarenlädchen auf dem Markt in Lagos. Und Domitilla lässt sich auf Jims Werben ein und wird seine Geliebte. Er weiß nicht, wovon sie lebt, aber dass sie in einem Slum wohnt. Und so bezahlt er ihr eine schöne Wohnung, unterstützt ihre Familie… er ist nett. Eine echte Zuneigung verbindet die beiden für eine schöne, kurze Atempause. Dann bricht zum zweiten Mal das Unglück los, mit voller Wucht: Verbittertes Misstrauen, Eifersucht, Intrigen, tragische Verwechslungen, getarnte Killer, unfähige Anwälte. Domitilla bebt vor gerechtem Zorn, als sie in ihrem Blumenkleid aufsteht vor der pistaziengrünen Wand des Gerichtssaals, inmitten gleichgültiger Gesichter. Ihre flammend empörte Gestalt, das gehört für mich zu den schönsten Bildern dieses Films. Wie es ausgeht, will ich nicht verraten. Nur dass es einen Gott gibt, dem auf einer Einblendung zum Schluss zu danken ist.

Zeb Ejiros Film war ereignisreich und aufwühlend. Ich habe viele Screenshots gemacht, und der Ordner mit ihnen steht nun, zufällig passend, direkt neben dem von Domino (Ivana Massetti, 1988), in dem Brigitte Nielsen, eindrucksvoll wie ein Berg, einen einsamen Star spielt (er lief am Anfang dieses Jahres auf dem Hofbauerkongress für sexuelle Filme in Nürnberg). Ich glaube, Filme, die einzelne Frauen porträtieren, gehören immer mehr zu meinen Lieblingsgenres. Sie sind oft überraschend und berührend. Ich finde es auch erstaunlich pragmatisch, dass die romantische Liebe und die Männer in diesem wie eine Seifenoper daherkommenden kleinen Film hier nicht die uneigennützigen Retter sein können. Viel mehr sind Kameradschaft und Solidarität das, was einem am ehesten aus der Patsche hilft.

Den Film kann man sich auf YouTube ansehen.

 

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