Die Familie mit dem umgekehrten Düsenantrieb - Crazy Family – Kritik
Der Umzug von der Innenstadt in die Vorstadt heilt keine Zivilisationskrankheit, sondern führt erst recht in den Wahnsinn. Gakuryū Ishiis Klassiker Die Familie mit dem umgekehrten Düsenantrieb (1984) ist ein so absurd komisches wie gruseliges Manifest der Entrücktheit – und kommt jetzt zurück in die Kinos.

Ziemlich genau in der Mitte von Die Familie mit dem umgekehrten Düsenantrieb (Gyakufunsha kazoku, 1984) kommt Sohn Masaki (Yoshiki Arizono) die Treppen hinunter. Er scheint nicht mehr ganz Herr seiner Sinne, auch weil er eine Art selbstgebauter Armbrust in der Hand hält, an der ein kleiner Hund gefesselt ist. Kurz zuvor hatte Tochter Erika (Yûki Kudô) versucht, sich im Bad zu erhängen. Vater Katsukuni (Katsuya Kobayashi) hatte begonnen, ein Loch mitten in das Haus zu graben, um dort ein Zimmer für seinen Vater (Hitoshi Ueki) zu bauen. Nur entdeckte er dabei einen Termitenbau, bei dessen Beseitigung er fast das Haus anzündete. Mutter Saeko (Mitsuko Baishô) hat zu diesem Zeitpunkt schon keine Lust mehr auf das Chaos von Mann und Kindern und möchte sie nach einem kurzen Dank für die gemeinsame Zeit einfach verlassen.
Eskalationsspirale des Verfalls

Die Geschichte hat zu diesem Zeitpunkt das erreicht, was der Titel ankündigte – ein umgekehrter Düsenantrieb ist im Japanischen ein Begriff für einen plötzlich einsetzenden Wahnsinn. Die anfängliche Harmonie ist aufgelöst, und die Familienmitglieder sind allesamt durchgedreht. Doch nun bleibt ja noch die zweite Hälfte, in der Regisseur und Co-Autor Gakuryū Ishii gar nicht daran denkt, nun zusammenzupacken und die entstandenen Konflikte aufzulösen. Stattdessen geht es immer weiter in der Eskalationsspirale. Gerade im Vergleich mit seinen vorangegangenen Spielfilmen Crazy Thunder Road (Kuruizaki Sandā Rōdo, 1980) und Burst City (Bakuretsu toshi, 1982) peitscht er das Geschehen zwar nicht mehr gnadenlos voran und arbeitet dramaturgisch mit ruhigen Zwischenphasen, nur sind diese nicht weniger durchgedreht als der Rest des Films, und überhaupt erhebt sich das Geschehen aus diesen nur umso wilder und kratzbürstiger.

Zu Beginn also pure Harmonie. Die Kobayashis beziehen ein Haus in einem Vorort, was einen unbedingten Aufstieg ihres Status bedeutet: Sie gehören nicht mehr zu denen, die in der Innenstadt in einem engen Apartment leben müssen. Katsukuni hofft, dass seine Familie nun von der „Zivilisationskrankheit“ genesen kann, die er diagnostiziert hat: Sie alle seien überspannt und seltsam. Schnell wird er aber betrübt feststellen, dass das genaue Gegenteil geschieht. Alle werden noch exzentrischer. Und das größte Problem wird sein, dass er völlig blind dafür bleibt, wie schnell und weit sein geistiger und seelischer Verfall voranschreitet.
Leuchtende Pyramiden überall

Was die Figuren zermürbt, ist ziemlich klar. Masaki ist durch die Aufnahmeprüfung für die Uni durchgefallen und hat jetzt ein Jahr Zeit, alles nochmal zu lernen. Die pubertäre Erika weiß nicht, wie sie Niedlichkeit und Selbstbestimmung vereinen soll, weshalb sie sich sowohl als Lolita-Schauspielerin als auch als Wrestlerin trainiert. Saeko ist sexuell unerfüllt – ihr Mann reagiert mit Katatonie und einem Schweißausbruch, als sie ihm ihren Körper zum Einzugsgeschenk macht – und leidet daran, Randerscheinung der Familie zu sein. Katsukuni versucht, es allen recht zu machen und ist in einem Hamsterrad gefangen – wie eindrucksvolle Montagen zeigen. Sein Wahnsinn kommt daher einer Befreiung gleich – eine noch eindrucksvollere Montage. Und sein Vater erpresst seinen Verbleib bei der Familie des Sohns durch emotionale Schachzüge.

Der Gesellschaftskritik von Die Familie mit dem umgekehrten Düsenantrieb funktioniert aber nicht über die Analyse der Konflikte in und zwischen diesen fünf Figuren, sondern über die schnelle Eskalation ihrer Zerrüttung. Nicht die Gründe werden untersucht, sondern die Folgen drastisch überspitzt. Kurz: Der Film lässt seine Figuren unter ihrem spezifischen Druck zu Cartoonfiguren werden, die sich bald wie Bugs Bunny und Elmer Fudd jagen. Und Ishiis Kunst liegt darin, wie stilsicher er sie in den Abgrund treibt. Masakis zunehmende Isolierung in den Lehrstoff, beispielsweise, sieht bald so aus, dass er mit einer leuchtenden Pyramide auf dem Kopf in einer leuchtenden Pyramide sitzt, die er in sein von oben bis unten vollgekritzeltes Zimmer gebaut hat. Mit Freeze-Frames, rasanten Bewegungen, Verfremdungen, ungewöhnlichen Perspektiven, Musik, Aluhütten und so weiter macht Ishii seinen Film zum Manifest der Entrückheit, in dem absurder Witz und Grusel nicht voneinander zu trennen sind.
Experiment ohne Chance auf Gelingen

Zentral dabei ist die Vereinzelung der Personen. Die Figuren bekommen zu Beginn jeder für sich einen eigenen Einspieler, bei dem sie wie in einem Sitcom-Vorspann mittels einer Pointe charakterisiert werden. Als das Haus zu brennen beginnt, kommen alle mit Wasser angerannt. Aber: Saeko kommt mit einer Gießkanne, Masaki mit einer Trinkflasche, Erika mit einem Eimer. Später werden alle mit ihren eigenen Waffen auf die anderen losgehen. Jeder hat seine eigene Macke, jeder reagiert auf Situationen auf eine ganz eigene Weise. Es ist der Running Gag des Films, dass sich die Vier nicht auf eine Position einigen können, dass sie oft auch in den Einstellungen in unterschiedlichen Ebenen stehen oder sonst wie nicht zusammen sind, sondern im Verhältnis zueinander verbleiben.

Ging es in den klassischen Shōshimin-eiga – Dramen und Komödien über die Belange von Familien der unteren Mittelklasse –, und vor allem in den Filmen von Yasujiro Ozu, darum, dass trotz aller Unterschiedlichkeit doch ein gemeinsamer Nenner, doch eine Form des Zusammenlebens gefunden werden kann, geht den Kobayashis dies (lange) total ab. Stattdessen wirkt das Zusammenleben der Familie bei Ishii wie ein soziales Experiment, ohne Chance auf Gelingen. Und spätestens wenn Opa die Uniform aus dem Zweiten Weltkrieg anlegt und wie früher die Vergewaltigung chinesischer Mädchen androht, dann habe wir eine Mutation des Genres erreicht, die nur noch als Shōshimin Chainsaw Massaker bezeichnet werden kann.
Neue Kritiken

The Mastermind

Tron: Ares

Chained for Life

A House of Dynamite
Trailer zu „Die Familie mit dem umgekehrten Düsenantrieb - Crazy Family“

Trailer ansehen (1)
Bilder




zur Galerie (16 Bilder)
Neue Trailer
Kommentare
Es gibt bisher noch keine Kommentare.