Der Brutalist – Kritik

Dreieinhalb Stunden lang, gegliedert wie eine Oper und konstruiert wie eine Kathedrale: Brady Corbets Der Brutalist ist ein Period Piece, das seine epochalen Fragen nicht nur auf die Architekturgeschichte projiziert, sondern vor allem auch auf Adrien Brodys expressives Gesicht.

Es dauert gute zwei Stunden bis The Brutalist zum ersten (und dann für lange Zeit zum letzten) Mal - nicht restlos eindeutig, aber dennoch lesbar - zu jenem Bild findet, das unter der Oberfläche dieses Films gar nicht anders konnte, als auf sich warten zu lassen: In einer akzelerierenden Parallelmontage sieht man den jüdischen Bauhaus-Architekten László Tóth (Adrien Brody) beim Gebet in einer Synagoge. Zeitgleich werden erkennbar zu schwere Betonplatten auf einen Zug verladen.

Mit der hämmernd-mystischen Musik, die sie antreibt, ist die Szene der inszenatorische Höhepunkt des Films. Die Kamera entfernt sich von dem Zug, entschwindet durch den Rauch der Lokomotive in den dämmernden Tag, in ein Panorama einer öden Landschaft. Dann - der Rauch trübt das Bild zu weiten Teilen - rutschen die Waggons stumm von den Gleisen, gehen in Flammen auf.

Die Zeit, die ein Bild benötigt

Als Bild für die Shoah steht diese Montage nicht nur in der Engführung von Überlebenden und Überlebten (Güterzug, Feuer, Rauch), sondern vor allem in der anschließenden Markierung des Unglücks als profaner Albtraum, der zugleich wiederum ganz und gar keiner ist. Denn tatsächlich entgleist ein mit Beton beladener Zug. Das Bauprojekt, an dem Tóth für den Industriellen Harrison Lee Van Buren (Guy Pearce) zu diesem Zeitpunkt arbeitet, einem Institut, bestehend aus einer Bibliothek, einer Sporthalle, einem Auditorium und einer Kapelle, muss einstweilen gestoppt werden. Damit endet vorerst auch die zweite Karriere Tóths, der nach dem Krieg in Europa nach Pennsylvania kam und dort in Van Buren einen Förderer und Bauherren fand.

Wenn The Brutalist ein Film über den Holocaust ist, dann eben deshalb, weil er derart viel Zeit aufwendet, um auf diesen ebenso zwangsläufigen wie uneindeutigen Moment zuzulaufen, nur um anschließen ähnlich viel Zeit nachzuschieben, in der dieser Moment nicht mehr rückzubauen ist. Vergleichbar mit dem massiven Carrara-Altar, den Tóth in der Mitte seines kathedralenhaften Mehrzweckbaus zu errichten plant, und der, einmal physisch aufgestellt, alles potenziell Zweckhafte des Raums zugunsten des rein Metaphysischen schluckt.

Die Revitalisierung der Moderne

Opernhaft untergliedert in eine Ouvertüre, zwei Teile, eine Pause und einen Epilog und mit einer Spieldauer von dreieinhalb Stunden ist The Brutalist vielleicht tatsächlich am besten als Gebäude mit ausladender Grundfläche beschrieben - mit verräumlichten Zeiten, durchschreitbaren historischen Perioden und Stilepochen (vom Kriegsende bis ins Jahr 1980, vom eher funktionalistischen, formschlichten Bauhaus zum expressiven, überformten Brutalismus), mit Korridoren und Fluchten als Konfliktlinien (das entwurzelte Leben in der Diaspora, der Einzug einer neuen Avantgarde in das katholische Ethos und die Kulturindifferenz der amerikanischen Kleinstadt).

Über die weitesten seiner Strecken funktioniert Brady Corbets panoramatisches Period Piece herausragend. Da ist beispielsweise die Bauhaus-Bibliothek, die Tóth seinem Mäzen in den Wintergarten baut. Sie besteht aus geschlossenen Einbauregalen, deren deckenhohe Türen sich alle gleichzeitig auffalten, sobald man eine von ihnen öffnet, sowie einen in die Mitte des Raumes platzierten Lesestuhl aus Chrom und Leder, in Anlehnung an die Sitzmöbel Mies van der Rohes. Eine großartige Szene. Nicht nur, weil Corbet und seiner Produktionsdesignerin Judy Becker mit diesem Raum ein sagenhaftes Stilzitat gelingt, sondern weil, viel umfassender, hier tatsächlich so etwas wie eine Revitalisierung der historischen Moderne geschieht. Übrig bleibt nicht nur der historistische Eindruck, den das Design vermittelt, sondern die (Seh-)Erfahrung einer Transformation im eigentlichen Sinne: vom Alten zum Neuen. Was historisch in der Weimarer Zeit verankert ist, baut Corbet ins Dekor der 1950er Jahre, um 2025, dem Jahr des Bauhaus-Jubiläums, fünf Minuten lang dem Aufbruch nachzufühlen.

Möglichkeiten und Unmöglichkeit des sakralen Raums

Dabei hilft es natürlich, dass Corbets Interesse an Architektur vor allem ein Interesse am Sakralbau (und seinen Potenzialen) ist. Schon die Bibliothek mit der sie überdachenden bunten Glaskuppel und dem altarhaft isolierten Lesestuhl wird von Tóth im Grunde zu einem Kirchenraum umgeformt. Dass die Glaskuppel bei den Renovierungsarbeiten zu Bruch geht, ist ein Indiz dafür, dass das Heilige aus der Welt verschwand und dass die Unmöglichkeiten des sakralen Raums immer mindestens so hervortreten wie seine Möglichkeiten (so sehr das Lesen in dieser Einpersonenbibliothek unweigerlich zu einem liturgischen Akt wird, so zwangsläufig bleibt der Exeget in ihr ohne Gemeinde).

Tóths Mehrzweckkathedrale ist nichts anderes als die in Beton gegossene Weiterführung dieser Dialektik (selbstverständlich ist der gigantisch hohe, jedoch bedrohlich enge Sichtbetonkanal, der über dem Carrara-Altar aufragt, um ganz oben, ein Kruzifix passierend, in den Himmel hinein zu münden, zugleich Kirchturm und Schornstein).

Immer im Begriff zu weinen

Zu der Architektur als Medium für das kollektive, zu diesem Zeitpunkt (nationalstaatlich oder anderweitig institutionell) noch völlig unverbundene Trauma der Juden in der Diaspora, neben der von allen Putz- und Farbschichten der Bau- und damit Zivilisationsgeschichte entkleideten Betonfassaden, gesellt sich eine zweite Projektionsfläche, die mit der ersten in einer zuweilen gespenstischen Korrelation steht: das Gesicht Adrien Brodys.

Noch heute hauptsächlich bekannt aus seiner Rolle als Władysław Szpilman in Roman Polanskis Der Pianist, bringt Brody allein rollenbiografisch eine spezifische Ikonographie in den Film. Auch damals spielte Brody einen seiner Profession beraubten Holocaust-Überlebenden. Gleichzeitig gibt es wenige Schauspieler in Hollywood, die ihr Gesicht derart überexpressiv zum Einsatz bringen können. Was immer Brody macht, ob er jemanden zur Begrüßung umarmt, schläft oder raucht: in seinem Gesicht gibt es stets eine Partie, die im Begriff ist zu weinen. Der Film treibt diese Qualität in einer Sexzene konsequent auf die Spitze, wenn der Protagonist die beiden semantischen Seiten der Leidenschaft in einer einzelnen Einstellung zusammenfließen lässt. Ein Orgasmus unter Tränen.

Das Empfinden der Vielen in einem Gesicht

Diese Eigenschaft macht es möglich, von Brodys Figur aus zu abstrahieren. Nicht, dass Tóth hier zum simplen Stellvertreter würde, der den kollektiven Schock messianisch aufsaugt, um ihn anschließend in einer Leidensgeste überlieferbar zurückzuspielen (kurz wirkt es so, als Corbet die Staatsgründung Israels aus dem Radio verlautbaren lässt, just in dem Moment, in dem Tóth seine ersten Bauskizzen anfertigt). Vielmehr sind Brodys Züge schlicht zu expressiv (und, um in der Sprache der brutalistischen Theorie zu bleiben: zu roh), als dass sie ein einziges privates Empfinden allein beheimaten könnten.

Die Architektur und das Gesicht, das sind die beiden Flächen, auf die Corbet seine epochalen Fragen projiziert. Die eine starr, die andere flüchtig, beide jedoch stets auf uneindeutige Weise nackt und expressiv zugleich. Die Widersprüche, die dabei entstehen, und auch die gespenstischen Synthesen, erzeugen die Spannungen, die The Brutalist über seine ausladende Dauer tragen. Und so ist die schönste Szene des Films vermutlich die, in der Tóth aus dem Hintergrund kommend auf seine Frau Erzsébet (Felicity Jones) zutritt. “What are you doing?”, fragt er sie, die gerade seine Baupläne studiert. Sie antwortet: “I am looking at you”.

Neue Kritiken

Trailer zu „Der Brutalist“


Trailer ansehen (1)

Neue Trailer

alle neuen Trailer

Kommentare

Es gibt bisher noch keine Kommentare.






Kommentare der Nutzer geben nur deren Meinung wieder. Durch das Schreiben eines Kommentars stimmen sie unseren Regeln zu.