Vergiftete Wahrheit – Kritik

VoD: Todd Haynes’ Whistleblower-Drama über einen Anwalt, der einen der größten Umweltskandale der USA aufdeckte, übt sich in Zuspitzungsverzicht. Dafür kann man etwas lernen, ohne sich belehrt zu fühlen.

Vergiftete Wahrheit (Dark Waters) beginnt im Jaws-Jahr 1975 und mit einer lakonischen Referenz auf Spielbergs Film. Ein paar angeheiterte Jugendliche stürzen sich nachts ins Wasser, die Kamera belauert aus der Tiefe ihre Beine, aber statt von einem Fisch gefressen werden sie nur von einem Wachboot vertrieben; vorher fand einer von ihnen, der stoned am Strand zurückblieb, ein verendetes Nagetier. Die Kamera verharrt dann noch einen Moment auf der dunklen Oberfläche des Gewässers – ein See in Parkersburg, West-Virginia –, das von ungesund aussehenden Schlieren durchzogen ist und sich bald als tatsächlich lebensgefährlich erweist.

Das Gift in uns

Das film-buffige Augenzwinkern der Szene bleibt eine Ausnahme; so als hätte sich Todd Haynes in einem sonst nicht nur in dieser Hinsicht völlig zurückgenommenen Film wenigstens zur Begrüßung einen kleinen Scherz erlauben wollen, wie man ihn von ihm erwartet. Umso ernster zu nehmen ist die „Beruht auf wahren Begebenheiten“-Ankündigung, die man dank hoffnungsloser Übernutzung heute meist schulterzuckend abhakt: Vergiftete Wahrheit geht es tatsächlich darum, eine wahre Begebenheit so genau wie möglich zu rekonstruieren.

Der Film erzählt, basierend auf einem Zeitungsartikel, von einem Prozess, den der Anwalt Robert Bilott gegen den Chemiekonzern DuPont führte, für den er vorher selbst tätig war. Die Firma hatte über viele Jahre eine hochgradig giftige Substanz (PFOA, nach der Anzahl der Kohlenstoffatome auch zärtlich „C8“ genannt) in den Ohio River geleitet und damit das Grundwasser der gesamten Gegend verseucht. Tatsächlich ist der durch Bilott ans Licht gebrachte Umweltskandal sogar von globaler Tragweite, denn C8 wird zur Herstellung von Teflon benutzt, dem Kunststoff, dem die Firma ihren Welterfolg verdankt. Laut der Texttafel am Ende hätten denn auch fast alle Lebewesen auf der Erde C8-Rückstände im Blut – darunter, wie wiederum lakonisch ergänzt wird, auch die meisten Menschen.

Zermürbung durch Kartons

Ins Rollen kam der Fall im Jahr 1998, als der Parkersburger Farmer Wilbur Tennant dem Anwalt ein paar Videos mit Aufnahmen seiner qualvoll sterbenden Kühe überreichte. Wie Bilott sich in den folgenden neunzehn Jahren beharrlich seinem Ziel im Courtroom nähert, nimmt Vergiftete Wahrheit in zwei Stunden filmisch zu Protokoll. Dabei enthält der Film durchaus Zutaten, wie man sie von einem Whistleblower-Drama erwarten kann: Bilotts kompromisslose Hingabe an den Fall belastet die Ehe mit Sarah (Anne Hathaway), ihm werden bei der Recherche Steine in den Weg gelegt, die berufliche Bedrängnis wächst zu einem Gefühl persönlicher Bedrohung. Solche Elemente nutzt der Film aber nicht zur dramatischen Zuspitzung. Vielmehr zeigt er, und zeigt Hauptdarsteller Mark Ruffalo, dass man für so einen Fall einen langen Atem braucht, dass Beharrlichkeit zermürben kann, bevor sie belohnt wird. Und dass man endlos viele Kartons durchwühlen muss.

Den Kontrast zwischen der Business-Welt Cincinnatis, in der Bilott arbeitet, und der Welt der gebeutelten kleinen Leute in Parkersburg bricht der Film nicht zum schematischen Antagonismus herunter. Anfangs macht sich Farmer Wilbur (Bill Camp) mit seiner Klage wenig Freunde in dem Ort, dessen größter Arbeitgeber DuPont ist. Dabei erfahren viele Bewohner die Machenschaften der Firma am eigenen Leib; wir hören im Film von mehr als nur einer Krebserkrankung. Aber dass der Konzern, der um die Gefährlichkeit von C8 immer wusste, jahrelang versucht hat, den Fall zu vertuschen, ist nur die eine Seite: Quer durch die Gesellschaft tun sich in Haynes’ Film die Leute schwer damit, es auch nur für denkbar zu halten, dass ein Konzern wie DuPont nicht zwangsläufig am längeren Hebel sitzt.

Fluorverdunkelte Zähne

Das Gefühl der Aussichtslosigkeit von Bilotts Kampf findet seinen Widerpart in einer Bildsprache, die dem nüchternen Realismus des Films eine Aura des Unheimlichen gibt. Bilder von Krankheit und Vergiftung ziehen durch die in gedeckten Farben gehaltene Welt; der aus Hügeln bestehende Kuhfriedhof des Farmers, seine aufbewahrten Tierinnereien; ein Rind, das einen grotesken Angriffstanz unternimmt, bevor ihm Wilbur den Gnadenschuss gibt. Gespenstische Schwarzweißfotos missgebildeter Kinder in den Akten; fluorverdunkelte Zähne eines Mädchens, das Bilott beim Vorbeiradeln anstrahlt.

Vergiftete Wahrheit erzeugt kaum Spannung im herkömmlichen Sinne, hält einen mit der sukzessiven Ausweitung des Falls von einem lokalen Ereignis zu einer globalen Verstrickung aber doch bei der Stange, und nebenbei hat man nicht nur über Chemie, sondern über die Komplexität des Rechtswesens und des Rechtsverständnisses der porträtierten Gesellschaft einiges gelernt. Auch wenn dem Film jede belehrende Attitüde abgeht, besteht bis zum Abspannsong, Johnny Cashs „I Won’t Back Down“, nie ein Zweifel daran, dass es sich um einen Themenfilm, einen Aufklärungsfilm, einen Film mit einem Anliegen handelt. Dass darüber in cinephilen Kreisen gerne die Nase gerümpft wird, mag daran liegen, dass dafür so selten eine angemessene Form gefunden wird. Doch wenn Stil heißt, einen zum Sujet passenden Ausdruck zu finden, dann ist auch dieser neue Todd-Haynes-Film, der über nicht abbaubare Rückstände und langwierige Recherchen in beharrlich insistierender Ruhe erzählt, der Film eines Stilisten.

Der Film steht bis 12.12.2023 in der Arte-Mediathek.

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