Corsage – Kritik
VoD: Sissi als Feminist Icon in der Midlife Crisis. Marie Kreutzer lockert die Schnüre von Kaiserin Elisabeths Korsett und spinnt damit Geschichte neu zusammen. Corsage ist Dekonstruktion, aber zugleich eine ernstgemeinte Liebeserklärung.

Beim Auspusten der Kerzen starrt das eigene, jüngere Gesicht vom Geburtstagskuchen zurück. 46 Zentimeter misst die Taille zwar noch immer, dem formwahrenden Kleidungsstück zum Dank, das dieser Film im Titel trägt. Doch die Krone wiegt schwerer, die Schicksalsjahre liegen im Gestern. Die durchschnittliche Lebenserwartung einer Frau im Jahre 1877 ist erreicht, mahnen die Kerzen auf der Torte, als ihre Flammen erlöschen, mitsamt der kleinen Zukünfte, die sie versprachen. „Hoch soll sie leben, schön soll sie bleiben, dreimal so schön“, schmettern die Gäste am österreichischen Hof in bester Laune. Ein Lied, das scheinbar Kontinuität feiert, aber doch Optimierung fordert. Denn schön soll sie ja eigentlich nicht bleiben, sondern schöner werden, dreimal so schön.
Eine Frau als Museum

In Marie Kreutzers Corsage bestimmen Zahlen den Körper der adeligen Protagonistin und dessen Wahrnehmung, vor allem eine: 40 Jahre ist Kaiserin Elisabeth (Vicky Krieps) inzwischen auf der Welt, als Sisi oder Sissi wohlbekannt und durch eine entfesselte Bildproduktion im blassen, unbekümmerten, eventuell naiven Mädchensein konserviert, was die Bevölkerung schon zu ihren Lebzeiten zum ständigen Vergleich mit dem gealterten Leib einlud – und nach dem Erscheinen der Trilogie von Ernst Marischka eine unbekannte Romy Schneider zur Pop-Ikone machte. Mit der Monarchin beschäftigt sich Kreutzer weniger aus einem Interesse an einer akkuraten historischen Erzählung oder an der Beziehung zum Weltgeschehen der passionierten Zeitungsleserin, Dichterin, Jagdreiterin und Hobby-Turnerin. „Was habt ihr vor mit Sarajevo?“, fragt sie einmal beiläufig Ehemann Franz Joseph (Florian Teichtmeister), der sich dem politischen Gespräch lieber entzieht und mit dem es eh nicht mehr so richtig läuft.

Zusammen hat das Paar Kinder gezeugt und ein paar davon wieder beerdigt, auffällig oft in Corsage trägt Heine-Fan Elisabeth Schwarz. Eine der Dienerinnen vergleicht sie beim Tagebuchschreiben mit einem unaufgeräumten Museum; ein unstetes, rastloses Wesen, ohne Überblick über den eigenen Bestand, das Phantom der Wiener Gesellschaft, weil sie so oft verreist und ungesehen bleibt. „Lesen ist gut, aber atmen ist besser“, rät sie Lieblingstochter Valerie (Rosa Hajjaj), und atmen heißt hier, die gewohnte Umgebung zu verlassen, in der vom veränderten Teint bis zum Gewicht alles unter beurteilender Beobachtung steht. Eben solche Ausflüge, wie sie die Mutter unternimmt, stellt auch der Film an, indem er sich das überlieferte Material anschaut, um seine Spuren nachzuvollziehen, aber eben dann bestehende Pfade verlässt, wenn er sich dem lustvollen Unterfangen hingibt, die Schnüre einer Corsage zu lockern und andere Punkte damit zu verbinden, Widerstände zu imaginieren, Gedankenspiele einzugehen.
Endlich wieder Kind sein

Kindlich, kindisch ist sie geblieben, diese tragische Figur, die immer noch schön und begehrenswert anmutet, bei Kreutzer aber sonderbar verfärbt, verdunkelt auftritt, wie eine Wolke, aus der es Weisheiten regnet (das Alter!), noch eine, weil’s so schön ist: „Niemand liebt niemanden. Jeder liebt, was er sich vom Anderen wünscht. Und wir lieben, wer uns als das liebt, was wir selbst gerne wären“, spricht sie, vielleicht pessimistisch, vielleicht realistisch, möglicherweise ratlos oder melancholisch, aber anscheinend aus einer Erfahrungswelt heraus, in der eine Flechtfrisur ein Lebenswerk bedeutet. Entgegen anderer Bearbeitungen der Mythen um Sisi und Sissi, die sich gerade vermehrt beobachten lassen, hat Corsage verstanden, dass sich im Blick auf den Körper und der Faszination an ihm etwas Größeres entlädt, das mit Rollenbildern und Nationen, mit Identifikation und Liebe zu tun hat, und formuliert selbst einen Wunsch an diese Figur, der er die Unsterblichkeit nimmt.

Das Comeback der Kaiserin, das sie auf RTL (Sisi, 2021), Netflix (Die Kaiserin, ab September) oder im Kino (für 2022 ist noch Frauke Finsterwalders Sisi und ich angekündigt) feiert, ist damit nur bedingt zu erklären, insbesondere in der Fixierung auf das Bild einer jüngeren Version. Corsage hingegen zeigt eine vierzigjährige Frau, die in der kaiserlichen Badewanne masturbiert, die begehrt, flirtet und dann die jungen Männer wieder zurückstößt (alles nur platonisch gemeint); die weiß, was sie will (und manchmal halt nicht), die raucht und ziemlich grantig sein kann, die so tut, als würde sie in Ohnmacht fallen (um endlich mal eine Pause zu haben von der ganzen Repräsentation) und danach weiter Brühe löffelt; die ihre Haare abschneidet, im Palast Zunge und Mittelfinger hinausstreckt; die sich einen Anker auf die Schulter tätowieren lässt und in Zeitlupe mit ihren Bediensteten und Hunden ins Schloss einläuft; eine feminist icon in der midlife crisis also, die ständig daran erinnert wird, wer sie für andere war, aber nun für sich bestimmen muss, wer sie eigentlich geworden ist.
Erfindung und Erfüllung

In Corsage ist die historische Wahrheit nicht von Belang, weil Geschichte in dem Moment zur Auslegungs- und Verhandlungssache wird, wenn wir anerkennen, wer unsere Vorstellungen der Vergangenheit und ihre Bilder geprägt hat. Ein Telefon steht im Hintergrund bei Kreutzer, ein Song wird feierlich am Hof vorgetragen, der klingt wie von den Rolling Stones geschrieben, einmal kommt einer, der sagt, er habe den Stummfilm erfunden, und Elisabeth hat es gleich erkannt: Das muss ihr Medium sein! Endlich alles sagen können, was sie mag, so lange sie dabei weiter lächelt. Cool! Unmöglich sind diese Szenarien nicht, unwahrscheinlich auf jeden Fall. Kreutzer sucht sie und macht deutlich, dass Zusammenhänge im Nachhinein geknüpft werden, dass Geschichte etwas ist, das zusammengesponnen wird, und erst in der Wahrnehmung die Bewegung entsteht, die Einzelbilder miteinander verbindet.

Ein Film, der im Wasser beginnt und der im Wasser endet, ganz so, wie es sich die Kaiserin selbst gewünscht hatte vor ihrem Tod, ehe sie dann in der Kapuzinergruft beigesetzt wurde. Corsage mag Dekonstruktion sein und ist doch in diesem Festhalten am letzten Willen vor allem eines: ein Versuch der Wiedergutmachung und der ernstgemeinten Liebeserklärung an eine Figur, die ihr Korsett manchmal enger schnüren lässt, um sich selbst zu spüren.
Der Film steht bis zum 22.12.2024 in der Arte-Mediathek.
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