Come On, Come On – Kritik
VoD: Mike Mills zapft für sein Kino der Transparenz und Empathie weiter das eigene Familienleben an. In Come On, Come On lernen sich Onkel und Neffe kennen, zum Glück auf zumindest filmischer Augenhöhe.

Erstmal Emo-Alarm: Ein middle-aged Junggeselle, gespielt vom notorisch unlockeren Joaquin Phoenix, wird bei einen Roadtrip durch Schwarz-Weiß-Szenerien US-amerikanischer Großstädte von einem Neunjährigen aufgelockert. Johnny ist ein etwas schwermütiger Radiojournalist, der seiner alleinerziehenden Schwester mit ein bisschen Babysitting aushilft, das sich in die gesamte Filmlänge ziehen wird. Johnny und Neffe Jesse haben nicht den leichtesten Start, lassen sich aber zunehmend aufeinander ein.
Pädagogisch unerfahren

Doch falscher Alarm: Mike Mills gelingt es, die Augenhöhe, auf der sich Johnny und Jesse nicht befinden, erzählerisch herzustellen, sodass niemand hier bloß Entwicklungsmotor des anderen ist. Seine jüngste junge Figur behandelt Mike Mills nicht wie Das Kind – Chiffre für Naivität, Projektion für den Zauber einer wundersamen Welt, den wir nicht mehr sehen können, oder Spiegel, in dem eine schreckliche Welt zur Kenntlichkeit verzerrt wird –, sondern eben wie einen neunjährigen Jungen mit Ecken und Kanten, und der für sein junges Alter wirklich verblüffend gute Darsteller Woody Norman leistet dazu einen großen Beitrag. Kindheit ist hier jedenfalls nicht wie so häufig ein Mittel filmischer Kommunikation, vielmehr ist Come On, Come On nicht zuletzt ein Film über die Kommunikation mit Kindern.

Johnny macht das zunächst nur beruflich: Fürs öffentlich-rechtliche Radio reist der Journalist durch die USA und fragt Kinder und Jugendliche über ihre Sicht der Dinge aus, über ihre Ängste, ihre Ungeduld mit den Erwachsenen, über ihre Vorstellungen von der Zukunft. Die befragten Kinder sind echt, ihre Aussagen spenden der Fiktion des Films ein paar quasi-dokumentarische Zwischenspiele. In dieser Fiktion erfährt der pädagogisch unerfahrene Johnny, wie es ist, mit einem Kind dauerhaft und jenseits von gescripteten Interviewfragen umgehen zu müssen.

Seine Schwester Viv (Gaby Hoffmann), die in Oakland ihren unter einer bipolaren Episode leidenden Ex-Mann unterstützen muss, hilft Johnny aus dem Off, während der den Jungen von L.A. nach New York, von dort nach New Orleans mitnimmt, ruft zwischendurch an, gibt Tipps und Hinweise. Die viel zu selten in größeren Rollen zu sehende Gaby Hoffmann verknüpft die ernsthafte Sorge um Kind, Ex-Mann und Bruder dabei in jeder ihrer wenigen Szenen mit der verdienten Ernüchterung einer alleinerziehenden Mutter, von der gesellschaftlich erwartet wird, all das ganz organisch hinzukriegen, was Johnny gerade im Schnelldurchlauf lernen muss: „Nobody knows what they’re doing, in dealing with these kids”, bringt sie die Erziehungsethik von Come On, Come On einmal auf den Punkt.
Radikale Transparenz

Dabei ist sich Mike Mills auch in seinem vierten Film nicht zu schade, den intimen Rahmen seiner autobiografisch gefärbten Erzählung – ging es in Beginners (2010) vorwiegend um seinen Vater und in Jahrhundertfrauen (20th Century Women, 2016) um seine Mutter, hat er nun das eigene Kind als Inspirationsquelle angezapft – zu verlassen und andere Stimmen sprechen zu lassen. Mehrmals zieren Buchzitate die Leinwand, etwa wenn Johnny bei Viv Jacqueline Rose’ „Mothers: An Essay on Love and Cruelty“ findet. Hier interveniert Come On, Come On denn auch ganz explizit in die feministische Debatte um die Entmystifizierung von Mutterschaft, wie sie seit der in Israel veröffentlichten Studie zum Phänomen „Regretting Motherhood“ auch in Netflix-Produktionen (Maggie Gyllenhaals Frau im Dunkeln) und hiesiger Gesellschaftskritik (Mareice Kaisers Das Unwohlsein der modernen Mutter) angekommen ist.

Die Schamlosigkeit, mit der Mills seine Filme mit solchen Fußnoten ausstattet oder auch mal einer Figur im PowerPoint-Modus einen biografischen Hintergrund spendiert, bewahrt sein Kino vor jeder Prätention. Was andere Filmemacher*innen gerade im US-Indie-Bereich oft mühevoll zu kaschieren suchen, macht Mills radikal transparent: Er manipuliert uns mit Figuren, die niemals Böses im Schilde führen, geleitet uns weniger in Spannungs- als in Gefühlsbögen Richtung Empathie. Zwar hat jede Szene ihren Platz, ja ihre Funktion, und doch bekommt man beim Abfahren dieser Stationen ein Gespür für die Fahrt, die zwischen ihnen stattfindet. Mills’ Filme sind einfach, aber nicht schlicht.
Abkürzung an den gesellschaftlichen Rand

Auch in einer der schönsten Szenen von Come On, Come On geht es um radikale Transparenz: Johnny sitzt nach einem heftigen Streit zwischen Onkel und Neffe auf dem Bett und liest Jesse vor: keine Gute-Nacht-Geschichte, sondern einen Online-Ratgeber, wie man sich bei einem Kind für das eigene Verhalten entschuldigt. „Sehen Sie Ihrem Kind in die Augen”, liest er da vor, und Jesse wartet gespannt, ist zugleich Objekt der Übung und Coach des Übenden. In dieser Szene drückt sich die Herausforderung des Umgangs mit den der Kindheit langsam Entwachsenden aus: Jesse ist in einem schwierigen Alter nicht nur, weil naseweise Jungs ziemlich nervig sein können. Sondern weil die nötige Vermittlung der Welt mit dem Schutz vor ihren Auswüchsen ständig wieder neu ins Verhältnis gebracht werden muss. Weil die transparente gegenüber der strategischen Kommunikation nicht nur die ehrlichere, sondern immer häufiger auch die strategisch klügere ist.

Dieser präzise Blick auf die Herausforderung, einem Menschen zunehmend auf Augenhöhe begegnen zu wollen, für den man zugleich eine große Verantwortung trägt, ist der Kern von Come On, Come On. Die Interviews mit den anderen Kindern, die häufig aus weitaus weniger privilegierten Verhältnissen kommen als Jesse, wirken da manchmal ein wenig halbseiden, wie ein cheap move, um über ein paar divers zusammengekratzte Kinderstimmen auf die sozialen Verhältnisse hinzuweisen, die Mills’ Kino ansonsten nicht ins Zentrum rückt. Dass hier auch der bei einer Schießerei gestorbene Devante Bryant auftaucht, dem der Film nachträglich gewidmet wurde, macht die Lücke zwischen jenen Erziehungsberechtigten, die sich um kommunikative Transparenz mit Hinblick aufs psychische Wohlbefinden ihrer Kinder sorgen, und solchen, die schon deshalb transparent kommunizieren müssen, um ihre Kinder nicht in Lebensgefahr zu bringen, dann doch ziemlich deutlich.
Die Gefühle der Welt

Doch letztlich ist Mills auch in dieser Frage radikal transparent. Dass sich in Come On, Come On eine progressiv-bürgerliche Sorge um die Erziehung des eigenen Nachwuchses wie um die soziale Frage ausdrückt, also letztlich eine politisch bewusste Nabelschau darstellt, ist dem Film selbst klar. Das Autobiografische von Mills’ Kino ist eben nicht nur das Schöpfen aus den eigenen Erfahrungen, sondern auch die ehrliche Vermittlung der gesamten eigenen Weltsicht. Schön an seinen Filmen ist nicht nur das Gefühl, das sie mir geben, sondern die Einsicht, dass eben jene Gefühle, die wir gern als unseren intimsten Ausdruck begreifen, nicht minder gesättigt sind mit der Welt, in der wir leben, als unsere Gedanken.
Der Film steht bis zum 20.11.2024 in der Arte-Mediathek.
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