Climax – Kritik
VoD: Körperkino obsessiv, musikalisch, kurzweilig, verdammt ernst und unbedingt komisch. Gaspar Noé ersinnt eine durchsexualisierte Tanzgruppe, bei der jeder Tänzer etwas dringend will. Climax setzt darauf, dass es schiefgeht.

In Climax macht Gaspar Noé vieles anders als in seinen Vorgängern Love (2015), Enter the Void (2009) oder Irreversibel (2002). Allem voran ist es ein Ensemblestück, bei dem eine ganze Tanzschule im Mittelpunkt steht, genauer gesagt: Es sind die Körper der Tänzerinnen und Tänzer, für die sich Noé interessiert. Zum Sog und zur seltenen Kurzweiligkeit des Films trägt nicht zuletzt bei, dass diese Körper sich ständig bewegen, mal alleine, mal miteinander tanzen, sich begegnen, sich begehren, sich betatschen, sich bedrängen und auch dann noch in einen Tanz verstrickt scheinen, wenn sie nur nebeneinanderstehen und reden. Climax ist hyperchoreografiert, schwelgt in ewig langen Plansequenzen, bewundert die Jugend, ihre (Körper-)Kontrolle und den Kontrollverlust.
Zu allem bereit für den Erfolg

Noé beginnt mit dem Ende, und das ist symptomatisch: Die Handlung, von der es wenig gibt, scheint vom Ergebnis her gedacht, vom Exzess, auf den vom zweiten oder dritten Anfang an (wer zählt schon so genau) alles zuläuft. Nachdem zuerst der Arte-Vorspann, in dem es stets heißt, dass dieser Film unter einem guten Stern geboren sei, rot eingefärbt und gehässig verformt zusammenbricht, wird in Windeseile der Abspann aus dem Weg geräumt. Einen Ausblick darauf, wie die Geschichte ausgehen wird, nämlich mit einer blutenden Frau im Schnee, hat es zu dem Zeitpunkt schon gegeben. Ein Spoiler ist das nicht.
Narrativ etwas klarer wird das Ganze, als ein schönes Retro-Interieur erscheint. Eine Regalwand, vollgestellt mit Büchern und VHS-Kaufkassetten: Suspiria, Possession, Querelle. Mit seinen Referenzen hält Climax nicht hinterm Berg. In die Mitte eingelassen ein altes Fernsehgerät, das eher nach 1980ern denn nach 1996 aussieht, dem Jahr, in dem der Film offiziell spielt. Offiziell, denn angesichts ihrer aktuellen Renaissance in der Mode sind die 1990er gar nicht so leicht von heute zu unterscheiden. Und mit technischen Geräten oder ähnlichem hält sich Noé kaum auf, von einem komödiantischen Ghettoblaster-Auftritt einmal abgesehen. Kurze Videoclips zeigen Bewerbungsgespräche der Tänzerinnen und Tänzer: Einer ist bereit zu allem für den Erfolg und meint es eindeutig zweideutig; eine will Berlin verlassen, weil es dort zu viele Drogen gebe. Diese beiden zeigen schon ganz gut das Spektrum der ausgesprochenen Absichten auf. Zwei Dutzend Figuren bilden den Körper des Films, und es gibt viel an ihnen zu hassen.
Wenn Homos Heteros rumkriegen wollen

Auf dem provisorischen Plakat von Climax, das in Cannes an die Presse verteilt wird, heißt es: „You despised I Stand Alone, you hated Irreversible, you loathed Enter The Void, you cursed Love, now try Climax, my new film, Gaspar Noe.“ Für viele dürfte das nach einer erwartbaren Provokationsgeste aussehen, und deren bietet Climax tatsächlich einige. Sie finden sich allerdings überwiegend narrativ dargeboten, in plumpen Dialogen und Texteinblendungen; filmisch macht Noé dagegen einiges anders, zum Teil zurückhaltender, zum Teil eingängiger, und übergibt viel in die Hände von ziemlich toller elektronischer Musik und spielerischer Improvisation. Überhaupt ist sein neues Werk gespickt mit Selbstironie und, bis auf ein paar Ausnahmen, überraschend wenig explizit. Der Grenzgang, von dem Climax erzählt, ist keiner des einzelnen Körpers (und dessen Genitalien), das Ziel ist vielmehr die gemeinschaftliche Erfahrung.
An einem der weiteren Anfänge steht eine Tafel mit großen aufdringlichen Lettern: „Ein französischer Film, und stolz darauf!“ Der Glitzer-Vorhang, der am Rand des Übungs- und Partyraums hängt, in dem sich weite Teile der Geschichte abspielen, ist in den Farben der französischen Flagge gehalten. Auch sonst gibt es etliche gesellschaftliche Marker, die zur Interpretation einladen, und Noé selbst liefert den Hinweis, dass er sich für Climax von Massakern der Sonnentempler inspiriert habe. Ich verstehe das als falsche Fährten, weil die Gelegenheiten, offenkundige Absichten und Behauptungen mit Entwicklungen oder Enttäuschungen in ein Verhältnis zu setzen, ausbleiben. Selbst ein so zentrales Motiv wie die (sexuelle) Beziehung von Homo- und Heterosexuellen, bei Noé ein wiederkehrendes, bei dem die Homos die Heteros rumkriegen wollen, mündet in nicht viel, was irgendwie als Bedeutungsträger taugen würde.
Obsession für Sex und Drogen, aus der Distanz

Climax findet zu sich selbst im Feiern des Augenblicks, dem der Film im Retromodus äußerlich bleiben muss. Im Gegensatz zu früheren Unternehmungen ist Noé weniger daran gelegen, subjektive Wahrnehmungen zu transportieren, stattdessen formuliert er eine primär filmische Position, die keine Entsprechung menschlicher, sondern eher mechanischer und übermenschlicher Perspektiven ist (zum Beispiel blickt Benoît Debies Kamera sehr lange unbewegt von der Decke eines Raums aus auf die Tänzer, aber auch die Mobilität der Bilder schmiegt sich kaum je wirklich an die Protagonisten). Merkwürdigerweise erscheint der Film deshalb reifer und genügsamer als etwa Love und Enter the Void. Mit beiden verbindet Climax die Obsession für Sex und Drogen, übersetzt sie aber in etwas, zu dem das Bewegtbild einen leichteren Zugang findet, nämlich die Faszination von physischen Möglichkeiten. Vor allem aber begnügt sich Noé nicht mit affirmativen Gesten, sondern distanziert sich bewusst von seinen Protagonisten. Das muss keine Leistung sein, im Fall von Noé erscheint es aber ehrlicher und effektiver als die behauptete Empathie.
Es dürfte Interpretationssache sein, ob beispielsweise lange sexistische Partygespräche zwischen zwei schwarzen Männern, die sich einbilden, über Frauen verfügen zu können (und zu sollen), in ausgestellter Form ausreichend der Lächerlichkeit preisgegeben werden oder nicht doch toxische Männlichkeitsbilder und rassistische Klischees perpetuieren. Es gibt allerdings auch wenig Indizien dafür, dass hier irgendeiner Haltung bestätigend zur Seite gesprungen wird. „Sterben ist eine außergewöhnliche Erfahrung“, heißt es an einer Stelle, und das ist nicht das Gemeinste, was der Film über seine Sujets zu sagen hat. „Leben ist eine kollektive Unmöglichkeit“, titelt Noé an einer anderen Stelle und liefert damit die beste Erklärung für seine gewählte Distanz. Nur geht der Film darin nicht auf und beschränkt sich auch nicht darauf, denn sein Glauben an die Klimax ist der Verve, mit der er sich entwirft, nun mal doch unmissverständlich eingeschrieben. Zwischen diesen beiden Extremen pendelt er und verbindet das beste beider Seiten: die Leichtigkeit der Distanz und die Komplexität der Erfahrung.
Der Film steht bis zum 02.11.2021 in der Arte-Mediathek.
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Kommentare
Leander
Link "Massakern der Sonnentempler" führt zu einem Typo 3 Login
Michael
Danke! Ist jetzt behoben.
2 Kommentare