Chronic – Kritik

Wir müssen leider drinnen bleiben: Die Präzision und Ruhe von Michel Francos englischsprachigem Debüt ist Fluch und Segen zugleich.

Chronic 01

Nur wenn David in seinem Auto sitzt, sind wir allein mit ihm in einem Raum, atmen wir die gleiche Luft wie die Hauptfigur von Michel Francos Chronic. Dann kommt sogar ein wenig Bewegung in die Kamera, freilich nur, weil ihr nichts übrig bleibt als mitzufahren, wenn der, an den dieser Film sie von Beginn an gefesselt hat, den Motor startet. So richtig nah sind wir David trotzdem nicht. Wenn er anhält und aussteigt, kommen wir nicht mit, sondern bleiben im Wagen. Dann knallt die Tür zu, und wir werden wieder auf Distanz gehalten, so wie in all den anderen Einstellungen: ein paar Meter auf Abstand, im stillen Modus des Beobachtens, vollkommen neutralisiert.

Die Distanz zum Fließen bringen

Der gemächliche Rhythmus von Francos englischsprachigem Debüt erinnert in Verbindung mit seinem Protagonisten, einem privat arbeitenden Krankenpfleger, an ähnlich geduldige Charakterstudien aus Lateinamerika, in denen wir Bodyguards, Nachtwächter oder Putzfrauen durch ihren Alltag begleiten. Chronic kommt aber weniger als Radikalexperiment der Erfahrbarmachung daher denn als konventionelles Erzählkino – seine ruhigen Einstellungen sind keine singulären Tableaus der Zeit, sondern klassische narrative Elemente, die Franco ins Fließen bringt.

Der objektive Blick des Films ist manchmal anstrengend, aber auch seine größte Stärke, ist er doch in zweierlei Hinsicht konsequent. Zunächst entspricht er der gedämpften Ausstrahlung seines Helden, der die Wärme und Herzlichkeit, die er seinen Patienten gegenüber an den Tag legt, in keinen Habitus übersetzt; der seiner Arbeit nicht mit extrovertierter Freundlichkeit, sondern mit empathischer Ruhe nachgeht. Tim Roth spielt diesen David, ganz im Einklang mit diesem Film, konzentriert und kontrolliert, mit spürbarer Lust an der Introversion.

Umarmung als Handlung

Wichtig ist die Distanz auch deshalb, weil Franco seinen Film damit entmenschelt; Neutralität als notwendige Gegenbewegung zum nach Sentimentalität strebenden Sujet. Auch in seinem bislang erfolgreichsten Film Después de Lucía ging es dem Mexikaner um eine solche De-Akzentuierung durch Distanz, dort war es die Dynamik seiner jugendlichen Figuren, die auszubremsen war. Dahinter steht eine Weigerung, die in einem Stoff angelegten Töne zu Akkorden auszubauen, all dem in der Darstellung zum Ausdruck zu verhelfen, das sich schon im Dargestellten ausdrücken müsste.

Chronic 02

So sehen wir David ganz ungerührt zu, wie er sich rührend um seine Patienten kümmert, wie er einem alten Schlaganfallpatienten ein wenig Sexualität erlaubt, wie er eine Frau wäscht, die sich eingeschissen hat, wie er seine ruhige, wärmende Stimme bewahrt, wenn eine von Chemotherapie gezeichnete Patientin sich wie aus dem Nichts übergeben muss. Welche der Umarmungen David mehr bedeutet – die, mit denen er seinen Patienten im wahrsten Sinne des Wortes unter die Arme greift und beim Aufstehen hilft, oder die, die er nach lange ausgebliebenem Kontakt mit seiner Tochter (Sarah Sutherland) teilt –, das sagt uns jedenfalls kein Close-up, keine Musik und keine Träne. Es bleibt bei einer Handlung, bei einem Außen, zu dem wir uns ein Innen denken müssen, diese Arbeit nimmt uns Franco zu keiner Zeit ab. Wir bleiben im Auto sitzen, während David dort draußen die Menschen pflegt, wenn Krankheit und Tod, deren skandalöse Indifferenz Chronic äußerst gelungen akzentuiert, ihr Unwesen treiben.

Die Hinweise darauf, wie dieses Innen aussehen könnte, sie schieben sich zunehmend in den Film hinein. Dass Davids Opferbereitschaft (er scheint niemandem einen Wunsch abzuschlagen, er schickt die Nachtablösung weg, macht lieber Überstunden) auch pathologische Züge hat und nicht zuletzt eine Art von Selbstflucht oder Vergangenheitsbewältigung ist, das sagt uns nicht nur sein Verhalten – kommt er doch mal in eine soziale Situation außerhalb der Pflege, so leiht er sich ein bisschen Leben von einem seiner Patienten, behauptet dann beispielsweise, Architektur zu studieren oder gerade eine Ehefrau verloren zu haben –, es wurde uns leider schon von unseren Sehgewohnheiten verraten: In seiner narrativen Struktur ist Chronic überraschungsfrei; die offenen Fragen werden bald (natürlich: ganz subtil) in die erwartbaren Kanäle vergangener Ereignisse geleitet; das Damals muss die Leerstelle des Innen besetzen.

Ein zu fertiger Film

So ist Chronic zwar ein äußerst präziser Film, nur steckt gerade in dieser distanzierten Präzision in Kombination mit einer recht durchschaubaren Erzählung auch eine gewisse Kalkuliertheit. In dem Maße, wie sich Franco aus dem einzelnen Bild herausstreicht und einen objektiven Blick behauptet, tritt er als Dramaturg des Ganzen umso deutlicher in Erscheinung. So fühlt der Film sich zunehmend an wie die allmähliche Aufdeckung von etwas, das längst vorhanden und durchdacht ist. Wohin auch immer uns der Schnitt auf die nächste Einstellung trägt, der Film ist längst da und hat nur auf uns gewartet. Chronic fühlt sich ruhig, klug und genau an, aber er fühlt sich auch von Anfang an fertig an.

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