Christmas Eve in Miller's Point – Kritik

Filmfest Hamburg 2024: Schatten tanzen wie Teufel über die Bäume, Wind und Kälte bedrohen ein behagliches Familienleben: Tyler Taorminas Christmas Eve in Miller’s Point ist ein Schwellenfilm, in dem die Bilder stets kippen können.

Tyler Thomas Taormina ist in love with a feeling. Wir könnten es Melancholie nennen, aber das würde es zu sehr verknappen. Es ist etwas aus der Zeit gefallen und trotzdem immer akut im Jetzt verankert. Es ähnelt Retrorestaurants in 50er-Jahre-Look, in denen sich Jugendliche wie beispielsweise in Ham On Rye (2019) oder auch in diesem Film treffen, um zu flirten und ihre Freundschaft zu feiern. Es ähnelt der Autoknutschmontage in eben diesem Film, Christmas Eve in Miller’s Point, wo sich der Schnee dicht über die Frontscheiben drängt und einen Ort für Intimität schafft, in dem für einen kurzen Zeitraum alles oder auch einfach nichts passieren kann. Taormina liebt die Vorstädte, wie Lynch sie liebt.

Christmas Eve in Miller’s Point ist dabei getreu seinem Titel ein Weihnachtsfilm geworden. Die italoamerikanische Familie Balsano versammelt sich jedes Jahr im Haus ihrer Mutter, um das Fest gemeinsam zu feiern, zentriert um Großmutter Antonia (Mary Reistetter) und ihre Kinder Kathleen (Maria Dizzia), Ronald (Steve Alleva), Ray (Tony Savino) und Elyse (Maria Carucci) samt Anhang. Sucht man eine zentrale Perspektive, findet man sie noch am ehesten in Kathleens Tochter Emily (Matilda Fleming), aber auch sie verschwindet immer wieder zwischen den Onkeln, Cousins und Neffen, die den Frame befüllen.

Unerbittlicher Schnitt

Die Kamera ist dabei immer in Bewegung, jede Einstellung wird durch eine visuelle Komponente dynamisiert. Seien es Zooms, Schärfeverlagerungen, Zeitlupen, beschlagene Fensterscheiben, eine schaukelnde Kellerlampe oder ein Treppenlift. Schatten tanzen wie Teufel über die Bäume. Wind und Kälte drohen mit ihren Blautönen stets das behagliche Innenleben für sich einzunehmen. Christmas Eve in Miller’s Point ist ein Schwellenfilm, der diese Übergänge zeigen will. Die können neutral oder, wie der gemeinsame Weihnachtsspaziergang, sogar positiv sein, aber auch stets kippen. In einer späteren Einstellung ist die Schiebetür geöffnet, und der Wind weht die weißen Gardinen bedrohlich auf den von Konfetti bedeckten Boden. Taormina hält dieses Bild so lange, bis es einem in die Knochen kriecht.

Der Schnitt kann ebenso unerbitterlich sein. Der wartenden Matriarchin, die langsam in die Demenz versinkt, wird der glitchende, in die Garage eingesperrte Rumba entgegengeschnitten. Emily ist mit ihren Freunden unterwegs, hängt ein bisschen hinterher, dreht sich einmal auf der verlassenen Straße um, bleibt stehen und schaut langsam nach oben. Der Film schneidet zu Kathleen, die über der Miniaturstadt schwebt und deren Licht ausknippst. Alle Angst, alle Konflikte, aber auch all die Liebe dieser Mutter-Tochter Beziehung ist in diesem Schnitt subsumiert.

We are never gonna fucking die!

Taorminas Filme funktionieren nach einer sehr klaren Kosmologie. Die Welt der Kinder, die der Teenager und die der Erwachsenen koexistieren zwar, sind aber im Ungleichgewicht, stehen wie Emily und Kathleen in konstantem passiv-agressivem Widerstreit. Kind sein heißt, sich eine bunte Brille aufzusetzen und die Welt als einen konstanten Strom von Sensualisierungen zu erfahren. Eine Weihnachtsprozession wird langsam aufgebaut und entlädt sich in einen Lichterrausch, der alles in Euphorie verschwimmen lässt. Jugend heißt Mobilität. Sei es auf Fahrrädern, Rollerskates wie in Happer’s Comet (2022) oder Autos. „Youth equals freedom: We are never gonna fucking die!“, schreit einer der Teens und grinst breit. Am Ende warten aber ein Zug und das Wiedereintreten in eine Welt der Regeln: Man muss pünktlich sein, einen Fahrschein präsentieren können. Coming-of-Age heißt ein Gewissen entwickeln. Emily wirft das Geschenk ihrer Mutter – ein suggestives rotes Päckchen – demonstrativ vor ihren Freunden weg, nur um es im selben Augenblick zu bereuen. Später wird sie versuchen, es wiederzubekommen, aber es bleibt verloren.

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