Christine – Kritik

Neu auf DVD: Das Mitleid als Verrat – Antonio Campos erzählt in Christine die reale Geschichte einer jungen Fernsehjournalistin und lässt uns dabei mit unserem Wissen um ihr tragisches Ende auf schmerzhafte Art allein.

Antonio Campos’ Christine wird von einer eigentümlichen Spaltung geprägt: Die reale Geschichte der jungen Fernsehjournalistin Christine Chubbuck wird hauptsächlich von ihrem Ende bestimmt – es gibt der Geschichte ihren Fluchtpunkt und ihren Sinn, und dieses Ende ist der Grund, warum die Geschichte nun, über 40 Jahre, nachdem sie sich zugetragen hat, immer noch im medialen Gedächtnis geblieben ist. Wenn man sich Campos’ Film mit einem einigermaßen zielstrebigen Interesse nähert, wenn man kurz im Internet nachrecherchiert, dann weiß man also, worauf der Film zuläuft, dann hat man immer vor Augen, wohin der Sog der dargestellten Ereignisse führen muss.

Doch Christine ist in sich so gestaltet, als wäre das Schicksal seiner Hauptfigur noch unbestimmt, als stünden Chubbuck (Rebecca Hall) tatsächlich eine Vielzahl an Handlungsmöglichkeiten offen – als wären die Hoffnungen begründet, die ihre wiederholten Ausbruchsversuche aus ihrem persönlichen Unglück begleiten, und als wären die Rückschläge, die sie infolge dieser Versuche erleidet, ganz unerwartet. Christine behandelt ein Ereignis, das bereits abgeschlossen und in seiner Bedeutung fixiert ist, als etwas vollkommen Offenes und zwingt uns so zu einem Spiel, das wir eigentlich gar nicht spielen wollen. Wir wissen um die Katastrophe, die sich hier unweigerlich anbahnt, doch der Film gesteht uns dieses Wissen nicht zu, webt es nicht in seinen Ablauf ein, belässt es als einen Fremdkörper, für den wir allein Verantwortung tragen. Das resignierte Mitleid, mit dem wir Chubbuck betrachten – wir erleben es somit nicht als eine inszenatorisch gewollte Wirkung, sondern als einen von uns an der Figur begangenen Verrat.

Die fremdartige Eigenmacht der Gefühle

Auf diese Art und Weise ruft Christine einen Zustand der Hilflosigkeit hervor, der nicht nur das Innenleben der Hauptfigur widerspiegelt, sondern eine gewisse Eigenständigkeit beansprucht: Wir stehen den Gefühlen, die wir an den Film herantragen, fremd und unschlüssig gegenüber, als hätten sie eine unabhängige Gestaltungsmacht und als würden sie die fortschreitende Abkapselung der Hauptfigur nicht nur begleiten, sondern selbst noch steigern. Diese beobachtete und vorangetriebene Leere und Abgeschiedenheit ist irgendwann so fortgeschritten, dass sie alle anderen sozialen Zwänge, denen die Protagonistin ausgesetzt ist, in Beschlag nimmt.

So leidet Chubbuck zwar an den Bedingungen eines auf Sensationen und quotentreibende Blutgeschichten ausgerichteten Fernsehjournalismus – doch hat man irgendwann das Gefühl, dass sie selbst in einem offeneren, verständnisvolleren Umfeld schnell in die gleichen Krisen und Konflikte schlittern würde. Denn die journalistische Arbeit, die sie mit großem, geradezu existenziellem Eifer betreibt, erscheint wie ein verzweifelter Versuch, mit der Welt in Kontakt zu treten – diese Arbeit ist ein viel zu drängendes, viel zu individuelles Anliegen, als dass sie zu Ergebnissen führen könnte, die sich in irgendeinen Funktionszusammenhang einfügen ließen.

Ein beständig eskalierender Stillstand

Eingebettet in diesen unkontrollierbaren Prozess der psychischen Aushöhlung erscheint auch Chubbucks Sehnsucht nach einer romantischen Beziehung nicht als ein unmittelbar empfundenes Bedürfnis nach emotionaler und körperlicher Intimität, sondern nur als die versuchte Nachahmung eines bei anderen beobachteten Verhaltens. In den Szenen, in denen sie sich nach ihrem Kollegen George (Michael C. Hall) verzehrt, spielt Chubbuck in Wahrheit nur eine Rolle: die eines jungen Mädchens, das sich nichts sehnlicher wünscht, als von einem Jungen zum Abschlussball eingeladen zu werden. Sie führt die Handlungen und die äußeren Merkmale dieser konventionellen Rolle aus, in der Hoffnung, dass sich die entsprechende Empfindung irgendwann schon einstellen wird. Chubbuck sehnt sich somit gar nicht nach Erfüllung, sie sehnt sich nach dem, was jeder Erfüllung vorausgehen muss: nach einem tatsächlich empfundenen Wunsch.

Da gerade ein solches Wünschen und Wollen unerreichbar scheint, heben sich auch die äußeren Enttäuschungen irgendwann nicht mehr voneinander ab – bis die Welt nicht feindselig, sondern nur mehr endlos gleichförmig erscheint. Nicht die Zurückweisung durch die Welt, sondern die eigene Unfähigkeit, sich in ihr an irgendeiner Stelle dauerhaft einzuhaken, verleihen Chubbucks Leben etwas unrettbar Tragisches. Und so ist Campos’ Film von einer paradoxen Dynamik bestimmt, die gerade in ihrer Widersprüchlichkeit und Ungreifbarkeit umso schmerzhafter ist: der Dynamik eines beständig eskalierenden Stillstands.

Die Therapie als Kampf

Bezeichnend für diese alles zerfressende innere Leere, bezeichnend auch für den gesamten Film, ist jene Szene, in der Chubbuck von einem Kollegen zu einer Art Therapiesitzung mitgenommen wird. Chubbuck sitzt in einer großen Turnhalle einer jungen, enthusiastischen, von der eigenen Methodik überzeugten Therapeutin gegenüber und beantwortet ihre Fragen mit vollkommener Ruhe und Offenheit – bis der Therapeutin schließlich nichts anderes mehr einfällt, als mit wankender Stimme immer aufs Neue dieselbe standardisierte Wortfolge zu wiederholen. Chubbucks feste und bestimmte Antworten wirken wie eine Herausforderung, einen Fehler in ihrer Argumentation und eine Täuschung in ihren Einschätzungen zu benennen.

Das ganze Gespräch ist weniger eine Behandlung oder eine Suche nach Abhilfe als ein Kampf, den Chubbuck so mühelos wie deutlich gewinnt. In dieser Szene tritt der Grund für die dunkle Faszination, von der Campos’ Film lebt, offen zutage: Chubbuck betrachtet ihre privaten und professionellen Krisen mit einem unerbittlich-nüchternen Blick, sie hat ein genaues Gespür für all die kleinen Nuancen, an denen sich ein Schicksal entscheiden kann – und infolgedessen scheint sie ihr Leben, und was sie von ihm noch zu erwarten hat, schlicht besser zu verstehen als all jene, die es gut mit ihr meinen.

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