Charlie Says – Kritik

Zugespitzte Männlichkeit. 20 Jahre nach American Psycho greift Mary Harron kaum weniger drastisch weiße, männliche Allmachtsfantasien und Gewaltexzesse in der US-Gesellschaft an. Ein feministischer Pamphletfilm über – oder besser gegen – Charles Manson.

Was sich zwischen der Schlächterperformance Christian Bales und dem Psychoregime des durchdringenden Manson-Darstellers Matt Smith verändert hat, ist vor allem die Perspektive: In Mary Harrons Charlie Says ist der Mann entrückter, wird aus der Distanz über die Idealisierungen und Zweifel seiner Opfer begutachtet und entzaubert. Erst erscheint Manson als charismatischer Gitarrenguru mit Zuckerblick und flirrenden Händen, bald als offen misogyner Fanatiker und Rassist, vermittelt in Rückblenden, die von begründeten Zweifeln an der Überwindung patriarchalen Missbrauchs erzählen.

Zwischen Gefängniszelle und Hippie-Kommune

Nach der Abschaffung der Todesstrafe in Kalifornien werden drei verurteilte Mitglieder der Manson-Gruppe begnadigt – zu dem Zeitpunkt beginnen ihre Gespräche mit einer Gefängnispsychologin (Merrit Wever), mit der sie, ausgehend von feministischer Literatur, über Gemeinschaft, Liebe und Ideologie in den späten 1960er Jahren diskutieren. Denn verleitet wurden sie durch die Idee der Revolution selbst, durch die Hoffnung auf die permanente Umwälzung der Verhältnisse und die Abwendung von den Plastikmenschen der bürgerlichen Mittelschicht. Charles Manson nahm sie in seine Gruppe auf, weil sie in ihren Lebensrealitäten verloren waren und keine Widerworte lieferten, weil sie sich ungeliebt fühlten und verstoßen. Wenige Zeit später ließ er sie als verblendete Mörderinnen zurück. Harron zeigt, wie Manson die drei Frauen dazu verleitet, sich gegenseitig in Abhängigkeiten zu führen, unterdessen vom Tod des Egos predigt, dann bald vom heiligen Rassenkrieg Helter Skelter, bei dem die Schwarzen und die Reichen über die Klinge gehen sollen.

Charlie Says – der in Venedig statt im Wettbewerb nur in der Nebensektion „Orrizonti“ gezeigt wird –, wiederholt und zelebriert förmlich seine Gruppenszenen, um zunächst psychologische Routinen und Rituale auszukosten. Harron arbeitet manipulativ, lässt Mansons Charisma und die romantischen Versprechen der Gegenkultur mit einem süßlich-euphorischen Soundteppich anklingen. Bald erschließt sich in der Zeitlogik des Films jedoch eine trockene, konfrontative Dialektik zwischen Gefängniszelle und Hippie-Kommune, die mit rhythmischer Regelmäßigkeit stur changieren, schließlich, durch die Montage beschleunigt, immer offensichtlicher kollidieren und in eine Bewusstseinskrise der drei Frauen führen. Die Prinzipien des Freiheitsentzugs erörtert der Film zunehmend und immer gewaltvoller in der Kommune, aus der es bald nur noch scheinbare Auswege gibt. Nur einmal stellt Manson Leslie vor die Wahl, am Rande einer Klippe: Wenn sie gehen will, steht ihr der Weg offen. Kurz zuvor war der tatsächliche Ausweg in Form eines Bikers erschienen, der ihr vor dem Saloon einen Ritt in den Sonnenuntergang versprach. Harron erforscht den Moment und Leslies Zögern unter Mansons gönnerhaftem Blick. Ein Schnitt beendet die Szene, zum Bus der Gruppe im Gegenschuss, der von einem Schriftzug geziert wird: Hollywood Productions.

Der Schlächter ist nicht imaginiert

Ein Fernseher im Gefängnis rezitiert den Mord an Roman Polanskis Frau Sharon Tate durch die Manson-Familie, in kühlen Bildern, die ihren Weg durch Gitterstäbe finden sollen. Harron lässt sich Zeit mit filmischen Verweisen und macht erst spät klar, in welchem Maße Charlie Says die Sicherheitsversprechen des Erzählkinos kennt und reflektiert. Umso mehr sticht dann ihre Entscheidung ins Auge, in einem Film über Wahn und Verblendung nicht mit der Integrität ihrer Erzählung zu brechen. Immer wenn Charlie Says droht, zu redundant, zu didaktisch oder zu gefällig zu werden, wählt Harron die Flucht nach vorne und verringert die Möglichkeitsräume der Erzählung noch weiter: Sie verstärkt die Lautstärke Mansons und schraubt die Intensität des Geschehens gemeinsam mit dem Maß seiner Gewaltdrohungen weiter nach oben – bis kein Zweifel mehr besteht an den Umständen innerhalb und außerhalb des Knasts: Der Schlächter ist nicht imaginiert. Er wurde wiedererweckt und tobt im Kinosaal. Wer den Film sieht, soll in seine Fratze blicken und ihm trotzen. Weil wegsehen Opfer fordert. Als Leslie tötet, sticht sie auf eine Frau ein und ermordet einen Teil von sich selbst. „Findet euren Weg zurück alleine“, sagt Charly.

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