Blau ist eine warme Farbe – Kritik
Ein hautnaher Film.

Es wird viel gesprochen werden über die ungewohnt langen und expliziten Sexszenen in Abdellatif Kechiches neuestem Film, dabei sollten wir doch eher über die kurzen und stilisierten Sexszenen all der anderen Filme reden, die uns die Sequenzen in Blau ist eine warme Farbe (La vie d’Adèle) erst als lang und explizit wahrnehmen lassen. Kechiches Sex ist jedenfalls überhaupt nicht ausgestellt, sondern fügt sich ganz leicht ein in einen Film, der auch dann körperlich ist, wenn gerade niemand nackt ist. Es wird geschnieft und gehustet, laut gekaut und geschmatzt, geleckt und gesaugt, geschrien und geschluchzt. Verheulte Augen und begierige Münder stehen im Vordergrund, vor allem die von Adèle Exarchopoulos und Léa Seydoux, die das große Liebespaar dieses Films spielen. Als vom pubertären Alltag frustrierte Schülerin verliebt sich Adèle in die geheimnisvolle Kunststudentin Emma mit ihren blauen Haaren, und es beginnt ein leidenschaftliches Verhältnis, das Herz dieses dreistündigen Stück Kinos.
Die Kamera, ein immer wachsames Tier
Schon Kechiches großartiger zweiter Film L’Esquive (2004) spielte in einem schulischen Milieu, zeigte die Teenagerclique als zentrifugalen Raum, in dem ständig gesprochen, gelästert und geschrien wurde. Auch in Blau ist eine warme Farbe beobachtet Kechiche zu Beginn den Schulalltag und nimmt dabei wie schon in anderen Filmen eine Generation ernst, der andere Filmemacher so oft mit Herablassung begegnen. Er interessiert sich für das den Klassenraum durchströmende jugendliche Denken, aber auch für die Machtmechanismen des Schulhofs, auf dem das Interesse an den Jungsgeschichten der anderen schnell in Stigmatisierung kippt, wenn die Grenze des Akzeptierten überschritten wird. Als Emma Adèle von der Schule abholt, noch lange vor dem ersten Kuss, ist das Urteil der Clique schon gesprochen und gipfelt in einer Abstoßung, die wir eher von männlicher Homophobie gewohnt sind: „Und du hast nackt in meinem Bett geschlafen!“, ruft eine Freundin angewidert.
Es ist eine ungemein dynamisch inszenierte Szene, in der die Stimmung des Schulmobs beinahe unbemerkt von Neugierde zu Vorwürfen und schließlich zu brutalem Ausschluss führt. Überhaupt dürfte es nicht viele Filmemacher geben, die sich mit größeren Gruppen so wohl fühlen wie Kechiche. Auch in Blau ist eine warme Farbe steckt Sofian El Fanis Kamera immer mittendrin, konstruiert das Cliquengespräch als Ereignis, als faszinierendes Gemisch aus sich überlappenden Aussagen, sich unterbrechenden Stimmen, sich hochschaukelnden Gefühlen und intensiven Blicken. Bei Kechiche ist die Kamera weniger eine zusätzliche Figur, wie es oft heißt, sie wird zu einem immer wachsamen Tier, das vom Schuss-Gegenschuss-Schema noch nie etwas gehört hat, das auf Impulse reagiert und sich manchmal gar nicht mehr einkriegt vor lauter Energie, die es umgibt. Diese Tier-Kamera kann sich kaum entscheiden, was sie gerade interessant findet, und so landet ihr Blick mal hier, mal dort, bleibt auf einem zuhörenden Gesicht hängen, bevor ein Einwand sie wieder herumschnellen lässt. In den intimsten Momenten dann verströmt sie selbst ein Begehren und scheint die Haut berühren zu wollen.
Ein versuchender und unsicherer Sex

Kechiches Naturalismus unterliegt dabei keinem formalen Dogma, es ist alles andere als dokumentarischer Purismus, sondern eine präzise Mobilisierung filmischer Mittel, um Kino und Leben einander so nah wie möglich zu bringen. Und ebenso nimmt er auch die in Kino wie Gesellschaft so mystisch überhöhte Sexualität als eine Form des Körpererinsatzes ernst, in ihrer ganzen Vitalität. Denn anders als in vielen Sexszenen, wo die Figuren wissen, was zu tun ist, und die Kamera weiß, was kommt, zeigt Kechiche einen versuchenden und unsicheren Sex mit stets offenem nächstem Schritt, einen Ausbruch der Leidenschaften, in dem der weibliche Körper gar nicht objektiviert werden kann. Schon allein die Geschwindigkeit der Liebenden verhindert, dass die Kamera eine Machtposition einnimmt. Wie in manchen der Dialogszenen ist sie keine Kontrollinstanz, sondern steckt mittendrin und ist damit überfordert, kommt nicht hinterher, das präsente Begehren scheint immer zu viel für sie. Sie bekommt kaum mal einen Blick für das Ganze, sucht nach Körpern, wo nur noch Bewegung ist, findet nichts als Münder und Haut.
So dynamisch, so aufregend, so intensiv Dialoge und Sex auch sind, man könnte Blau ist eine warme Farbe auch als einen Stummfilm in Farbe sehen, als eine Geschichte in Farben. Noch in der ersten Szene trägt Adèle eine bunte Strickmütze in Orangetönen. Einmal von den blauen Haaren Emmas angezogen, tritt diese Farbe in ihr Leben, steckt sie an, und fortan sehen wir sie mit zunehmender Selbstsicherheit in immer neuen Klamotten, immer neuen Blaus. Als die Liebe zu schwächeln beginnt, als Emma ihre Haare entfärbt hat, da verschwindet das Blau auch aus Adèles Leben. Man mag das simpel finden, aber dass es ausgerechnet Farben sind, die einen sonst so offenen Film erden, das ist doch Ausdruck eines selbstbewussten, aufregenden Kinos.
Die Handlung ist dagegen fern jeder Struktur. Kleine Geschichten werden angedeutet – die Heimlichtuerei von Emma und Adèle vor deren Eltern scheint auf eine bevorstehende Coming-out-Szene hinauszulaufen – und versacken wieder, so wie sich Prioritäten von Menschen eben verschieben, weil manches wichtiger, anderes egal wird. Auch die durchaus größeren Zeitsprünge bekommt man als Zuschauer kaum mit, so wie man auch außerhalb des Kinosaals nicht ständig an die tickende Lebensuhr denkt, und zwischendrin doch immer wieder staunt, wie viel Zeit vergangen ist.
Blau ist eine warme Farbe vergeht trotz seiner drei Stunden sehr schnell. Es ist ein Film, der keine Überlänge hat, sondern sich die Zeit nimmt, die er braucht, für seine Ode an das schmatzende, leckende, schluchzende, hautnahe Leben.
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