Blonde Death – Kritik
Blu-ray: Voll und ganz dem Punk verpflichtet. James Dillingers Blonde Death ist eine Perle des queeren Films und steht exemplarisch für das Video-Exploitationkino der 80er-Jahre. Anarchisch, wütend und von derber Komik getragen, eröffnen die rauschigen Camcorder-Bilder ganz neue Wege des filmischen Ausdrucks.

Immer wieder gibt es im Lauf der Filmgeschichte kurze Momente, in denen die hegemoniale Logik von Massenproduktion und Kassenerfolg aufbricht und sich ein alternativer Umgang mit dem künstlerischen Medium Film offenbart. Solch ein Moment fand etwa in den 1980er-Jahren statt, in denen es eine kurze Phase der Demokratisierung des Films gab. Zu dieser Zeit kamen die ersten Camcorder für den Privatgebrauch auf den Markt. Diese Videokameras waren klein und handlich und sie nahmen Bilder auf Magnetband auf, womit das Entwickeln von Negativen, das aufwendige Schneiden und die kostenintensive Herstellung multipler Filmkopien entfiel. Neben einer unendlichen Zahl von privaten Urlaubs- und Hochzeitsvideos entstand damals auch eine Reihe von Shot-on-Video-Spielfilmen – größtenteils Exploitation-Filme, die ohne nennenswerte Budgets und professionelle Teams, aber mit viel Kreativität produziert wurden und die es auch oft in die Regale der zeitgleich aufkommenden Videotheken schafften. Die Videotheken hatten damals noch Probleme, ihre Regalmeter zu füllen, und nahmen fast alles ins Inventar auf, was der Markt bot: Die Videokassette vom letzten Hollywood-Blockbuster fand ebenso Platz wie der obskure Underground-Reißer.
„Meet Tammy“

Einer der bedeutendsten und besten Shot-on-Video-Filme – und eine Perle des queeren Films – ist James Dillingers (aka James Robert Baker) Blonde Death von 1984: „Meet Tammy, the Teenage Timebomb. 18 years of bottled-up frustration are about to explode!“ lautet die Tagline auf der Videokassette dieses derben Cocktails aus Coming-of-Age-Story, Gangster-Romanze und schwarzer Komödie. Was die Beteiligten für nur 2.000 US-Dollar und innerhalb weniger Drehtage zustande gebracht haben, ist beeindruckend: der Film ist rasant erzählt, die Story steckt voller Wendungen, die Einstellungen sitzen, die schauspielerischen Leistungen sind erstklassig und die anarchischen Dialoge ein absolutes Highlight.
Die junge Tammy (Sara Lee Wade) zieht mit ihrem Vater Vern (Dave Shuey) und ihrer fundamentalistisch-christlichen Stiefmutter Clorette (Linda Miller) in die Suburbs von Orange County. Das Verhältnis zwischen Tammy und ihrer Stiefmutter ist, gelinde gesagt, explosiv. Clorette zeigt sich entsetzt über den liederlichen Lebenswandel ihrer Stieftochter: „Vern, she said the F-word!“, „Vern, she said the C-word!“, „Vern, you wouldn’t believe the trash she has been reading. Everything from Harold Robbins to Marcel Proust.“ Worauf Tammy entgegnet: „You leave my books alone, you neo-Nazi slop pig!“ Und so eskaliert es immer weiter zwischen den beiden. Tammy fühlt sich von der Spießigkeit ihres Elternhauses und der Vorstadt eingeengt und versucht jede Gelegenheit zu nutzen, dieser physischen und geistigen Enge zu entfliehen. Sie trifft auf ihre lesbische Nachbarin Gwen (Anne Kern), die ihr einen ersten Ausblick auf einen alternativen Lebensentwurf eröffnet – und sie dabei fortwährend anbaggert. Die Handlung erfährt eine entscheidende Wendung, als Tammy an einem sturmfreien Wochenende von einem attraktiven jungen Mann in ihrem Haus überfallen und gefangen genommen wird. Link (Jack Catalano) lautet sein Name, er saß wegen Mordes im Knast und befindet sich nun auf der Flucht. Wie zu erwarten ist, verlieben sich die beiden Hals über Kopf ineinander und zeigen der Mainstreamgesellschaft als kriminelles Liebespaar den Mittelfinger, bis dass der Tod sie scheidet.
„The World’s Angriest Gay Man“

Blonde Death bedient sich klassischer Genreversatzstücke des Gangster- und Coming-of-Age-Films. Darauf weist der Film selbst auch immer wieder hin, beispielsweise wenn im Fernsehen Rebel Without a Cause (Nicholas Ray, 1955) oder Bonnie & Clyde (Arthur Penn, 1967) laufen. Außerdem weckt der Film Erinnerungen an Badlands (1973) von Terrence Malick, nur dass Blonde Death ganz ohne Malicks esoterischen Einschlag auskommt. James Dillinger ist voll und ganz dem Punk verpflichtet, der Anfang/Mitte der 1980er-Jahre auch eine jugendkulturelle Reaktion auf die neo-konservative Wende während der Amtszeit von Ronald Reagan war. Seine Bekanntheit und seinen heutigen Kultstatus hat Dillinger aber nicht als Regisseur, sondern vielmehr als Autor schwuler Literatur unter seinem bürgerlichen Namen James Robert Baker erlangt. Er veröffentlichte eine Handvoll heute hochgeschätzter, satirischer schwuler Romane, arbeitete aber auch eine Zeitlang als Drehbuchautor. Die Arbeit im Filmbusiness stellte für ihn jedoch eine frustrierende Erfahrung dar. Blonde Death sollte das einzige Spielfilmprojekt bleiben, das er realisieren konnte. Dillinger litt nicht nur unter homophoben Diskriminierungen und dem damaligen konservativen Zeitgeist, er war auch stark drogenabhängig und depressiv. Im Jahr 1997 nahm er sich schließlich das Leben.
Der Frust und die Wut auf die Heteronormativität sowie auf die Homophobie seiner Zeit flossen in Dillingers Kunst ein – in der Presse wurde er als „the world’s angriest gay man“ bezeichnet. Auch Bonde Death ist voller queerer Bezüge, unter anderem hängt die Kamera immer wieder genüsslich an Links athletischem Oberkörper und Tammys Stiefmutter Clorette ist gekleidet und geschminkt als wäre sie in Drag. Die Dialoge des Films sind dabei in einer Weise wütend und brutal, dass sie immer wieder in zynischen und wahnsinnig komischen Humor kippen: „It’s like taking a dildo from a baby.“ Sätze wie diese reflektieren die teils tiefen Traumata und unausgetragenen Konflikte der Protagonisten, wie etwa die Andeutung eines sexuellen Missbrauchs Tammys durch ihren Vater Vern. Dillinger enthüllt fortwährend die gesellschaftlichen und persönlichen Abgründe, die hinter der heilen, suburbanen Fassade liegen – womit er sich in einem intertextuellen Dialog mit David Lynch befindet, in dessen Filmen ebenfalls dunkle Schatten auf das strahlende Amerika fallen. Und was ist Lynchs Spätwerk Inland Empire (2007) anderes als der größte Shot-on-Video-Film aller Zeiten?

Auch auf visueller Ebene fallen bei Blonde Death Inhalt und Form in eins. Die charakteristischen Merkmale des Shot-on-Video-Films sind die extrem rauschigen Bilder mit ihren horizontalen Farbstreifen, die geringe Farbsättigung und die kleinen, stolpernden Bild-Ton-Lücken bei jedem Schnitt. Sicherlich haben auch budgetäre Gründe zur Wahl von Video und Camcorder als Aufzeichnungsmedium beigetragen, aber die daraus resultierende Ästhetik stellt zugleich eine radikale Abkehr vom Hochglanzbild und der Konformität großer Hollywood-Filme dar. „Do it yourself“ lautete schließlich einst ein zentrales Leitbild der Punk-Szene.
Donkeyland und die Agonie des Realen

Eine Schlüsselszene des Films ist der Ausflug von Tammy, Link und seinem ehemaligen Zellengenossen Troy nach Disneyland – beziehungsweise „Donkeyland“, wie es im Film genannt wird. Im Guerilla-Style wurden die Aufnahmen vor Ort gemacht, ganz ohne Drehgenehmigung. Doch das mit einem Camcorder ausgerüstete Filmteam sah auch nicht anders aus als die vielen Familien, die durch den Freizeitpark strömten. Erst das technische Gerät ermöglichte es den Independent-Filmern, inkognito solche Aufnahmen zu produzieren. Die Bilder von Disneyland lassen aber auch an den französischen Medientheoretiker und Philosophen Jean Baudrillard und seine Thesen zu einem Zeitalter der Simulation denken. So schreibt Baudrillard Ende der 1970er-Jahre in Agonie des Realen: „Disneyland existiert, um das ‚reale‘ Land, das ‚reale‘ Amerika, das selbst ein Disneyland ist, zu kaschieren.“ Die Kulturindustrie hat unseren Alltag derart überformt, dass die Landschaften und Städte aussehen wie im Kinofilm und die Menschen eigentlich nur noch wie Filmfiguren sprechen und handeln. So sehr sich Tammy und Link auch wünschen, aus der Gesellschaft auszubrechen, sind sie doch nicht in der Lage, wirkliche Alternativen oder gar eine Utopie zu entwerfen. Sie wissen mit ihrer Freiheit am Ende nichts anderes anzufangen, als an den Strand zu fahren, flotte Autos zu klauen oder den Freizeitpark zu besuchen. Ihr Frust und ihre Wut über die Unmöglichkeit einer nachhaltigen Veränderung entladen sich in Mord und Totschlag und schließlich finden sie nur im selbstgewählten Tod einen Ausweg. So ist Blonde Death ein wütender Film, der aus Verzweiflung über die Verhältnisse am Ende nur noch lachen kann.
Die Blu-ray gibt es bei Vinegar Syndrome.
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