Birthday – Kritik
Ein Film wie eine mit Tesafilm geflickte Mixkassette: In Hisayasu Satōs Birthday begegnet ein Junge mit allerlei psychosexuellen Absonderlichkeiten in der Familie einem coolen Mädchen, das sich mit 20 in die Luft sprengen will.
Die Stadtbahn von Tokio ist durchflutet wie ein Flugzeug von kristallisch hellem, kühlem Sonnenlicht. Die Fahrgäste versuchen, ihre Blickachsen aneinander vorbei zu legen. Die Kamera aber rückt ihnen so nah, dass sich ihre Bilder perspektivisch verzerren. Sie liegt in den Händen eines missmutigen Jungen, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die hier immer wieder vorkommenden Fummeleien zu dokumentieren: „Molester’s Train“ hieß eine Serie von Pinkfilmen, zu der Hisayasu Sato 1993 diese Episode Birthday aka Nasty Behavior aka Dirty Behavior beisteuerte. Nicht-Orte wie dieser Zug schreien nach Regelverletzungen. Während die Anpassungswilligen unter den Passagieren sich bis zur Entseeltheit herunterfahren und sich zu ungeliebten Zielen schießen lassen, drehen einzelne von ihnen durch. Ein Mädchen lässt sich vor den Augen aller von einem Mann beschlafen; er sieht sein Gesicht dabei unentwegt und unbewegt in einem Handspiegel an. „Ich habe dich einmal gekannt“, stammelt sie verzückt und einsam, „du warst vor langer Zeit mein Mann.“ Ein anderes Mädchen wird von der Szene erregt und schiebt sich die Hand in ihr Höschen. Der Junge filmt das. Sie sehen sich an. Und werden Freunde.
Birthday erinnert mich an einige Musik, die mir in den Neunzigern viel bedeutet hat. Der unmade look, das Amateurfilmhafte, Undergroundkünstlerische… wie eine mit Tesafilm geflickte Mixkassette (besonders in der mir vorliegenden Rip-Kopie). Die exzentrischen Geschichten und die düster-poetischen Statements haben den nervenkranken Blues eines Nick Cave oder Tex Perkins und spielen, mit einer gewissen Ironie und grimmigem Humor, den Desperado. Zugleich ist eine existentialistische Nacktheit in ihnen, mit der es ihnen verzweifelt ernst ist.
Der junge Filmer aus der Bahn hat ein großes Problem mit Sexualität und sinnlicher Wahrnehmung. Alles ist für ihn unwirklich, zweidimensional, das Eigentliche fehlt; nur durch die Kamera wird alles wieder echt. „Kann es sein, dass du an Depersonalisation leidest?“, fragt ihn das Mädchen in seiner direkten Art. Sie schlafen miteinander. Er ist sexuell unerfahren und ungeschickt, sie geduldig und enthusiastisch.
Er gibt seiner Familie die Schuld. Diese Familie ist allerdings wirklich extravagant. Die Ballung der psychosexuellen Absonderlichkeiten, Süchte und Verrücktheiten in ihr wirkt wie eine Persiflage auf die eng und absurd miteinander verquickten Inzestfamilien mancher Pornos. Der Junge ist ganz zerfressen von Verachtung. Obsessiv filmt er seine Verwandten bei ihren hysterischen Aktionen und wird dabei mit seiner Kamera selbst zum „train molester“. Zuhause schaut er sich seine Bilderbeute an. Das Mädchen kommt neugierig mit gucken. Da sitzen die beiden gerade erst Bekannten in seiner lieblos eingerichteten Singlewohnung auf der Kunstledergarnitur im Dunkeln, und er präsentiert ihr, mit verbittertem Sadomasochismus, sein bizarres Sex&Crime-Sammelalbum: eine Triebmoritat und Elendsverkörperung nach der anderen. „Schau, das ist meine Schwester. Sie verliebt sich nur in Sadisten und lässt sich von ihnen in der Bahn ficken, obwohl sie sich dabei zu Tode schämt. Meine Mutter ist ein ‚kitchen drinker‘; hier siehst du sie in ihrer Küche mit der Flasche. Mein Vater leidet unter einer Phobie vor dem Nachhausekommen. Statt heimzugehen, belästigt er Frauen in der Bahn, unter dem Vorwand, sie hätten ihm sein Ticket gestohlen und es in ihren Muschis versteckt. Mein Bruder ist verrückt. Er hat eine Erleuchtung bekommen, ist nun bei einer Sekte und verspricht den Leuten in der Bahn spirituelles Glück, wenn sie die Attrappe seines steifen Glieds anfassen und es streicheln.“ Das Mädchen ist neugierig und aufgeschlossen und hat für alles Verständnis. „Es gehört viel Mut zu dem, was deine Schwester da im Zug macht“, sagt sie, und er, ganz Moralapostel und Verstockung: „Pah. Sie ist einfach pervers.
Das Mädchen wohnt in einem billigen, kleinen Campingzelt am Rande des Hafens; sie paddelt da mit einem Schlauchboot hin. Es ist eine wildgewordene Brache, eins dieser Unkrautländer an Bahndämmen. Sie lebt da ganz low budget, und sie will das so; es ist autark, reduziert und distanziert; sie will keine Wurzeln schlagen. Sie ist auf der Suche nach einem alten Freund, aber vielleicht ist er schon tot, das glaubt sie mehr und mehr. Wenn sie zwanzig ist, will sie ihm folgen, an ihrem Geburtstag, mit einer Ladung Dynamit. Ein superhübsches Mädchen mit einem schönen Lächeln, unvergesslich großen Blicken. (Ihre Darstellerin, die berühmte Pornoschauspielerin Yumika Hayashi, starb zwei Tage nach ihrer Geburtstagsfeier, mit 35; sie ist wahrscheinlich an ihrem Erbrochenen erstickt. Schlaft nie allein, wenn ihr betrunken seid!) „Dynamit, 1000 Kilo Dynamit“, singt sie wie eine Seeräuber-Jenny am Ende, aber achtlos, spielerisch. Ich habe vor kurzem einen Stummfilm gesehen, „Die schwarze Loo“, an dessen Star, Maria Orska, sie mich erinnert.
Ein guter, interessanter, 54 Minuten kurzer Film ist das, dicht, gewagt, mit kleinen Mitteln, kleinem Geld, aber er weiß, was er tut und will nichts anderes. Irgendwie ist Birthday selber wie das Mädchen: auf coole Weise independent.
Zu den anderen Texten unserer Hisayasu-Satō-Reihe geht es hier:
Stoß das Tor zur Hölle auf: Die Filme von Hisayasu Satō
Sex ohne Erlösung – Der Schauspieler Kôichi Imaizumi
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