Babylon - Rausch der Ekstase – Kritik
Vor dem Tonfilim war alles besser: Damien Chazelles Ode an das frühe Hollywood schwankt zwischen herrlichen Schweinereien und vielsagenden Dialogszenen, will zugleich zügellose Vaudeville-Show und ernsthafter Oscar-Kandidat sein.

Die Bruchstelle ist die gleiche: Sowohl in Babylon als auch in Singin’ in the Rain (1952) ist nach der Premiere von The Jazz Singer (1927) alles anders. Der Tonfilm revolutioniert das Kino in kürzester Zeit und der Stummfilm ist mit einem Mal obsolet. Was aber in Stanley Donens und Gene Kellys Muscial einer Befreiung gleichkommt – Theatralik und eingebildete Stars werden durch Authentizität, Spielfreude und junge Talente ersetzt –, stellt bei Damien Chazelles neuem Film kaum weniger als einen Sündenfall dar.
Bei Todesfall Mund abputzen

Vor 1927: Wilde Orgien mit treibendem Jazz, endlos fließendem Alkohol, allen Drogen der Welt, Elefanten, Kleinwüchsigen, zügellosem Tanz, riesigen Gummipenissen und und und… Kostümfilmdrehs, bei denen ein exzentrischer deutscher Regisseur mit Jeep und Kamera durch etwas jagt, das von einer tatsächlichen Schlacht kaum zu unterscheiden ist, und dabei immer noch nach mehr verlangt. Der Dreh von ungehemmten Kneipentänzen – kurz vor offenen Erotikfilmen. Nicht nur weil die Zuschauer es verlangen würden, sondern weil es einfach atemberaubend ist, was wie durch Zauberhand vor der Kamera entsteht, was alles möglich ist.
In Plansequenzen wird die Party eingefangen, wie um zu beweisen, dass dies alles wirklich gleichzeitig geschieht. Immer wieder enden die Kamerafahrten auf der Trompete einer Jazzkapelle, weil ein Lebensgefühl laut hinausposaunt wird. Montagen und rasende Actionsequenzen tragen das Adrenalin und die schiere Freude daran, Ideen umzusetzen in den Film. Kurz: Es herrscht eine freie, durchgedrehte, sprießende Welt der Kreativität. Und wenn ein Statist oder ein Partygast stirbt, dann wird sich kurz der Mund abgeputzt und weiter stürmt der Wirbelwind.
Heuchlerisches Prestige

Nach 1927: Qualvolle Retakes unter qualvollen Bedingungen. Schauspieler, die im neuen Medium verloren sind wie Fische an Land. Die Partys werden selbstzerstörerisch. Vor allem rückt der Tonfilm mit seinen neuen Möglichkeiten und Gewinnmargen die Industrie weiter in die Mitte der Gesellschaft und bringt pikfeine Investoren mit sich. Weshalb nun moralischen Standards gehorcht und sich verbogen werden muss.
Der Sündenfall findet sich also darin, dass niemand mehr er selbst sein darf, dass Offenheit und Freiheit verloren gehen. Schmerzhaft porträtiert der Film, wie ein heuchlerisches Prestige Einzug hält, das aus Sex etwas Verdorbenes macht, das Lust gegen Hemmung austauscht. Einerseits ist die Einvernehmlichkeit dahin, andererseits wird das nun Unmoralische in einen schauerlichen Untergrund gedrängt. Aber auch Race-Fragen rücken vermehrt in den Mittelpunkt und führen zu einer äußerst schmerzlichen Blackface-Szene.
Spätrömische Dekadenz und frühmittelalterlicher Kater

Babylon verfolgt dabei fünf Schicksale. Im Zentrum finden sich der Aufstieg und Fall von Starlet Nellie LaRoy (Margot Robbie) und dem Fixer Manny Torres (Diego Calva). Nebenher versandet der Gott des alten Hollywood Jack Conrad (Brad Pitt als fiktive Version von Douglas Fairbanks sr.) langsam in der Bedeutungslosigkeit, der Trompeter Sidney Palmer (Jovan Adepo) wird kurzzeitig berühmt und Zwischentitelgestalterin und Hohepriesterin stilvoller Perversion Lady Fay Zhu (Li Jun Li) verliert ihren kaum auszumachenden, aber dennoch zentralen Status in der vergehenden Welt.
Zwar sind die meisten Figuren an reale Vorbilder angelehnt – es wird auch mit Namen realer Leute wie Greta Garbo um sich geworfen und auch Irving Thalberg kommt als Figur vor –, dennoch ist Babylon reinste Fiktion. Die komplexen Zusammenhänge und ästhetischen und industriellen Entwicklungen von zwei Jahrzehnten werden auf einfache Zusammenhänge runtergebrochen. Auf der einen Seite eine Stummfilmwelt, in der die Zeit der Nickolodeons und der One-Reeler nie zu Ende gegangen ist. Eine Zeit, für die Kenneth Angers Hollywood Babylon sichtlich als Inspiration herhielt – ein Buch voller überzeichneter Urban Legends, in dem das frühe Hollywood zum Sündenpfuhl stilisiert wird. Der Skandal um Fatty Arbuckle wird dergestalt kurz aufgegriffen. Auf der anderen Seite die Mär des völlig statischen frühen Tonfilms und eines omnipotenten Hays Codes. Spätrömische Dekadenz trifft auf einen frühmittelalterlichen Kater, sozusagen.
Prestige, Sex und Paramount

Anfang und Ende von Babylon ziert das damalige Logo der Paramount Studios. Nicht nur des größten Studios der späten Stumm- und frühen Tonfilmzeit, sondern auch das Studio der Regisseure – wie es Ethan Mordden in The Hollywood Studios darstellt. Es war das Studio von Ernst Lubitsch und Josef von Sternberg. Das Studio der schwachen Produzenten, das den Regisseuren ihre Visionen ließ. Das Studio mit dem anzüglichen Witz und dem Verlangen nach Prestige. Nur im Falle der Filme von Marlene Dietrich und von Sternberg war es das Studio der offenen dekadenten Perversion.
Das passt einerseits überhaupt nicht zu diesem Film, weil Chazelles Herz sichtlich auf der Seite des Schmutzes, der Vulgären und „Kulturlosen“ steht. In seinen besten Momenten ist Babylon nämlich eine sich genüsslich in Sauereien suhlende Vaudeville-Show. Brad Pitts Schauspiel ist so wenig stilsicher wie Margot Robbies Figur aus Once Upon a Time… in Hollywood (2019) ausgeschlachtet wird. Andererseits passt es wie die Faust aufs Auge, weil die Ambivalenz aus Prestige und Sex in den Filmen von Paramount eben eingeschrieben war, vor allem aber weil Babylon sichtlich das Kind der Vision seines Regisseurs ist. Keine Hand ist spürbar, die nach Zügelung verlangt, und Chazelle kein Regisseur, der besonders dezent ist – dass Babylon ein Remake von Singin’ in the Rain ist, lässt er beispielsweise nicht subtil im Raum stehen, sondern zeigt uns 1952 in einem Kino nochmal die Stellen, auf die er Bezug nahm. Und so ist der Film nicht nur drei Stunden lang, sondern ein megalomanes Unterfangen.
Die Schönheit von Filmen
Neben der Sause aus Schweinerein schwankt Babylon eben auch immer wieder zu den großen, vielsagenden Dialogszenen, die bei den Oscars eingespielt werden könnten, und möchte gerne tiefschürfende Erkenntnisse künstlerisch wertvoll präsentieren. Zeitweise wird er zum transgressiven Horror- (Tobey Maguire!) oder Essayfilm. Kein Versuch wird unterlassen, noch mehr Genres und Möglichkeiten des Mediums Films von gestern und heute zu integrieren – ohne es mit der damaligen Filmsprache allzu genau zu nehmen. Oder anders: Immer und immer wieder möchte Chazelle Avatar (2009) und Persona (1966) aufeinander folgen lassen.
Denn am Ende ist Babylon nicht nur ein Film über einen Zeitenwandel und einen Sündenfall, sondern ein schrecklich überbordender über die Schönheit von Filmen. Auch wenn Singin’ in the Rain eben ein Verrat an einer alten, besseren Zeit sein könnte, so ist er eben doch etwas, das einem die Tränen in die Augen treibt. Und auch wenn Babylon aus allen Nähten platzt und qualvoll seine Grenzen nicht kennt, ist er eben gerade in seinem Scheitern an und Verweigern von Prestige doch ein Erlebnis.
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