Atlantis - Ein Sommermärchen – Kritik
In Eckhart Schmidts Atlantis geht es um die romantische Entdeckung der menschlichen Sexualität durch Außerirdische. Damit kann man sich mühelos identifizieren.
Bald wird Arielle verfilmt, Christian Petzold plant Undine … es scheint, nach Einhörnern und Flamingos, rollt endlich eine neue Nixenwelle auf uns zu. Dazu passt der Auftrag aus dem Intermeer an mich: Schreib für critic über Eckhart Schmidts Atlantis!
Atlantis (Isi ter Jung) kommt mir wie eine Freundin vor. Ich folge ihr mit Sympathie und Seelenverwandtschaft durch ihr leichtes und charmantes Roadmovie. Auch wenn die Männer, die sie für ihren ruchlosen Auftrag aufgabelt, nicht jede(n) von uns glücklich machen würden.
Der Film ist wie ein Song, und die Kamera (Uwe-Peter Wilm) ist extrem schön. Sie fängt Atlantis’ Wesen ein, den Wald, die Münchner Straßen mit Jim-Morrison-Plakaten, die guckenden Arbeiter im wirbelnden Staub auf einer Großbaustelle, die poppige Twen-Bude, die Sommeratmosphäre, obwohl es erst Vorfrühling ist. Jack Grunskys liebliche Singer/Songwriter Musik erinnert an Lovin’ Spoonful. Vieles – die Rangeleien der Mädchen oder wie sie Atlantis fesseln – ist nur Skizze und Behauptung; es will und muss nicht alles perfekt sitzen. Die Leute – unter ihnen viele Amateurschauspieler – sind wie Teenager miteinander. Es ist ein bisschen Kölner/Münchner Schule. Oder Lemke, tschechische Komödien. Oder auch „Der phantastische Film“, jene legendäre, verspielte Genrefilmreihe im alten deutschen Fernsehen.
Plansoll: Zehn verkleinerte Männer
Atlantis und ihre Kolleginnen sind eines sonnigen Tages gemeinsam aus einem See bei München aufgestiegen und haben eine Mission: Da auf ihrem Unterwasserplaneten nur Mädchen geboren werden, müssen sich immer wieder junge Frauen auf den Weg machen, um oben auf der Erde Männer zu fangen. Wie in Jonathan Glazers Under the Skin schlafen sie mit ihnen in berechnend männerschädlicher Absicht, doch sachlich, ohne Bosheit oder Hass. Im Augenblick des Orgasmus verkleinern sich die Männer wie von Zauberhand. Die Unterwassermädchen stecken sie in ihre Handköfferchen. Dann nehmen sie sie mit zu sich nach unten, um sie als Fortpflanzungssklaven zu halten. Die Nixen werden dafür sorgfältig geschult, wird erzählt, und sie sind gestylt wie Titelbildträume der frühen 1970er Jahre: lange Mähnen, lange Beine, extrem kurze Kleider. Mitleidlos treibt sie der Eifer, ihr Plansoll (zehn verkleinerte Männer) zu erfüllen. Ihre Anführerin (Ursula König) – extravagant, toupiertes Haar, megalange Wimpern – ist so schnippisch und hochmütig wie die Chefin einer Modelcastingshow. Die Mädchen folgen ihr bedenkenlos und munter.
Nur Atlantis … sie ist anders. Sie ist noch immer wie das kleine Mädchen, das im Kindergarten abseits stand und Träumereien nachhing. Die anderen müssen sie auffordern, mitzumachen. Besonders wenn sie zuschaut, wie ihre Kolleginnen Männer überwältigen und Sex mit ihnen haben, kommt eine weiche, verzauberte Stimmung auf ihr Gesicht; sie wird ganz sanft und versonnen. Die romantische Entdeckung der menschlichen Sexualität durch Außerirdische. Damit kann man sich mühelos identifizieren.
Atlantis trampt durch die Voralpen nach München und begegnet einem Händler erotischer Literatur. Der nette, katzige, schwule, junge Mann nimmt sie im Auto mit. Er ist gerade auf einer Tour: Er beliefert Kunden mit Erotika. In einer kleinbürgerlichen Wohnsiedlung empfängt ein alter Mann von ihm einen großen Stapel Bücher voller nackter Mädchen; er hat ein gutes Pokerface, ruhig und verholzt, wie ein archaisches Amphib. Der nächste Kunde ist ein vierschrötiger Bürgermeister, der seine unanständigen Bücher hoch in den Wipfeln eines Baumes versteckt. Atlantis versucht es mit ihm im Wald. Sie kommen nicht weit; seine kleine Tochter hat nach ihrem Papa gesucht und stört sie. Unverwandt, neugierig schaut sie die beiden an. Atlantis und sie lächeln einander zu wie ihren jüngeren bzw. älteren Ichs.
Atlantis’ Handtasche bleibt leer
Man lernt viele Männer kennen mit Atlantis. Aber wem sie auch begegnet – dem „gefährlichsten Bankräuber Deutschlands“ (Art Brauss, schmuck verkleidet als Soldat und Pfarrer), einem albernen Kirmesaufbauer, einem griesgrämigen modernen Ehepaar, das mit Atlantis’ Hilfe „seine Ehe retten“ will, einem aufklärungsfilmparodistischen, infantil gestörten, jungen Sexprofessor … es wird mit keinem was. Die Kolleginnen sammeln einen nach dem anderen ein, doch Atlantis’ Handtasche bleibt leer: eine hübsche Variante des im Sexfilmgenre so beliebten „Mädchen-will-seine-Unschuld-verlieren“-Themas.
Bei einem Typen finde ich es schade, dass daraus nichts wird: ein Boy mit softem Gesicht und blonden Wimpern, der mich an den jungen Howard Carpendale erinnert. Er wird so umgarnt von Atlantis’ Kollegin, dass er sich kaum auf den Beinen halten kann. Wie eine von Blütenstaub betäubte Hummel. Ihn hätte ich gern länger angesehen.
In wen sich Atlantis letztendlich verguckt, ist leider ein ziemlich typischer, verspannter Macker der frühen BRD-70er-Jahre: Raoul (Horst Letten). Seine Pose zynisch-abgebrühter Lebenserfahrung und Unromantik galt zu seiner Zeit bei allzu vielen als männlich und erstrebenswert. Sei forsch und misstrauisch, lass dir nicht „von Frauen auf der Nase herumtanzen“, simuliere Durchblick und Überlegenheit bei Gefühlen und den „Maschen der Mädchen“ (Chris Roberts). Seufz. Atlantis findet Raoul trotzdem irgendwie sehr nett. Sie würde gerne mit ihm schlafen. Aber sie hat Angst, dass auch er sich dann verkleinert. Er hält diese Skrupel für Raffinesse. Als er ihr endlich die Geschichte glaubt, bellt er herzlos: „Du bist ja lebensgefährlich! Ich kann mich beherrschen. Ich habe nicht die geringste Lust, bei euch den Sexsklaven zu spielen.“ „Aber was willst du?“, fragt ihn Atlantis. Und er, in einem endlich unverstellten, traurigen Moment: „Trost.“
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