Asche ist reines Weiß – Kritik

VoD: Entwurzelt zwischen Vergangenheit und Zukunft. Jia Zhang-Ke zeigt uns in Asche ist reines Weiß das China der letzten 20 Jahre, indem er die Spuren einer Liebesgeschichte legt.

Qiao (Zhao Tao) dreht ihre Runde – durch einen Industriebau mit nackten Wänden und vielen meterhohen Räumen. Männer sitzen hier an Tischen zusammen, sie trinken und rauchen und spielen. Sie bezeichnen sich als Brüder, sie sind Mitglieder eines Untergrundclans in Datong, einer Stadt etwa 300 Kilometer westlich von Peking in der Provinz Shanxi, einer Kohleminen- und Schwellenregion im Nordwesten Chinas. Qiao dreht ihre Runde als eine Art Königin; ihr halblanges Haar und der scharf geschnittene Pony über ihren Augenbrauen wirken wie eine Krone, eine Insignie, die hier, im sogenannten Jiang-Hu-Milieu (mafiöse Geheimgesellschaften mit Ehrenkodizes) jeder anerkennt und respektiert. Die Kamera folgt ihr durchs Gebäude, es ist ihr Gang, ihr Streifzug, ihre Runde, durch die Jia Zhang-Ke dieses Mafia-Tableau entwirft, diese Männergemeinschaft, in der man sich sonnenbebrillt Geldbündel zusteckt, in der man schnell die Pistole zückt, in der man aber unter Berufung auf die Bruderschaft niemals abdrücken würde, in der man abends zu „Y.M.C.A.“ tanzt und verschiedene Schnäpse in einer großen Schüssel zusammenschüttet, sich einen Schluck vom rituell angemischten Hochprozentigen schöpft, um gemeinschaftlich die Bruderschaft zu begießen. Draußen im dunstig-kühlen Vorstadtraum gehen die Minenarbeiter auf die Straße, demonstrieren für Reformen, ohne Aussicht auf Erfolg. Hier bleibt man ungehört – Qiao weiß das, deshalb zieht sie auch den Stecker, als sie auf ihren Vater trifft, der gerade in ein Mikrofon skandiert, seine Stimme über den ohnehin schon kaum sichtbaren Protestzug legt: Das China von 2001 – gebaut aus sterbenden Wirtschaftssektoren, aus Traditionen und aus nacktem Beton.

Die Fiktion sprießt aus dem Dokument

Am Anfang seines neuen Films zeigt uns Jia Zhang-Ke eine Einstellung von Männern in einem Bus. Sie blicken stumm in die Kamera; dann sehen wir das Bild eines schlafenden kleinen Mädchens am Fenster. Es sind dokumentarische Videoaufnahmen, die Jia vor 20 Jahren gefilmt hat und die er hier als sozio-politische Markierung voraussendet. Zwar schält sich schnell das fiktionale aus dem dokumentarischen Bild, aber abschütteln lässt es sich nicht. Diese ersten Bilder zieht der Film über seine epische Dauer hinweg mit sich mit, wie ein Stück abgestorbene Haut, die noch am Körper klebt. Man kann Asche ist reines Weiß (Jiang hu er nv) grundsätzlich im Abstand dieser beiden Bildtypen verorten; denn die größte Qualität dieses Films besteht darin, dass seine universelle Love-and-Crime-Story aus dem Boden eines konkreten historisch-politischen Raums heraussprießt, als wäre sie dessen Naturwuchs, als wäre die Erzählung nicht erdacht, sondern auf der Grundlage eines unsichtbaren, inneren Geschehens ausgeworfen durch ein bestimmtes Zusammenwirken gesellschaftspolitischer Verhältnisse im China von 2001.

Haft aus Liebe

Im Verlauf von Asche ist reines Weiß legt Qiao knapp 8000 Kilometer zurück. Während sich Bin (Liao Fan), die Liebe ihres Lebens, eine brutale Auseinandersetzung (Schlagstöcke, die sich anhören wie Eisen auf Holz) mit einem befeindeten Clan liefert, zückt sie die Pistole, die sie eigentlich nie in die Hand nehmen wollte, schießt mehrmals in die Luft und rettet ihn vor dem Tod. Fünf Jahre Haft folgen für sie, die den Geliebten im Verhör nicht verraten wollte: fünf Jahre Haft aus Liebe. Nach ihrer Entlassung reist sie Bin nach, der in der Zwischenzeit in den Süden Chinas gezogen ist – ins Staudammgebiet am Jangtsekiang. Bin hat dort eine neue Freundin, hat Qiao in ihrer Zelle zurückgelassen, sie dort nie besucht, sie aus seinem Leben radiert. Auf der Suche nach Anknüpfung an das alte Leben fährt Qiao (mittlerweile ungeschminkt und mit gewöhnlichem Pferdeschwanz) mit dem Schiff in eine dichtbebaute Stadt ein. Es ist das Jahr 2006. Die riesigen Wohnhäuser, die hier kilometerlang das Ufer säumen, wird es irgendwann, sobald die Schleusen geöffnet werden, nicht mehr geben. Ein Ort mit einer Halbwertszeit, ein Ort, der nie richtig entstehen konnte, weil er immer schon im Sterben lag. Die gigantischen nationalen Bauprojekte der Regierung setzen hier eine ganze Welt aufs Spiel, eine Welt mit schwachen Wurzeln, eine Welt mit festgelegter Dauer.

Qiao dreht ihre Runden

Diese Episode aus Jias dreiaktigem Film ist die mit Abstand eindrücklichste. Hier verwächst sich Qiaos persönliche Geschichte am schönsten und zugleich gespenstischsten mit dem politischen Raum, in den sie ihre Kerben schlägt. Ihr entwurzelter Zustand zwischen Vergangenheit und Zukunft korreliert mit einem Raum, der aus keiner stabilen Vergangenheit heraus entstand und dem keine Zukunft in Aussicht gestellt ist. Und wenn Qiao anschließend wieder in einen Zug steigt, abermals Tausende Kilometer zurücklegt, die Nation durch die verschiedenen Vegetationszonen hindurch durchkreuzt, dann wird sie wieder auf das Drama zurückgeworfen, von dem wir am Anfang noch nicht wussten, dass es eines ist. Qiao dreht ihre Runden. Das ist ihr Gesetz – und ohne dass sie brachialen Stellvertretercharakter bekäme, ohne dass sie zur Symbolfigur würde, wird klar: Hier dreht nicht nur sie ihre Runden, hier dreht eine ganze Welt (die marginalisierte Welt Zentralchinas, wenn man konkret werden will) ihre Runden. Auf der Suche nach Zukunft.

Der Film steht bis 21.06.2022 in der Arte-Mediathek.

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