Anora – Kritik

Russisches Millionärssöhnchen heiratet Sexarbeiterin in Las Vegas: Sean Baker wagt sich aufs Terrain des Exploitationskinos vor. Dabei glaubt er zwar anders als seine Figuren nicht an Romantik, aber ist doch voller Wärme für sie.

Aufstieg in Brooklyn, vom Stripclub in Brighton Beach zur Luxusvilla in Mill Basin. Ivan, genannt Wanja (Mark Eydelshteyn), verheißt Stripperin und Sexarbeiterin Anora, genannt Ani (Mikey Madison), einen amerikanischen Traum. Einen amerikanischen Traum mit russischem Zungenschlag, und mit russischem Geld, denn der verwöhnte Jüngling, der behauptet, immerhin 21 zu sein, ist der Sohn eines Oligarchen und verprasst Papas Geld, ohne groß darüber nachzudenken. Aus dem Lap Dance mit der einzigen Stripperin mit Russischkenntnissen wird ein privater Sex-Termin wird eine ganze Woche als exklusive Freundin wird eine Hochzeit in Vegas. Ani macht mit, einerseits des Geldes wegen, über den Preis für jeden der obigen Schritte wird verhandelt, andererseits weil sie durchaus angetan ist von diesem russischen Timothy Chalamet, der so unbekümmert durchs Leben geht, wie es nur die ganz Reichen können, von seinen Partys, seinen Drogen, seinem Haus, nicht zuletzt von seiner sexuellen Naivität und Verspieltheit.

Kein Grund, zynisch zu werden

Für das Kino von Sean Baker ist diese Beziehung eine paradigmatische. Zu den Milieus der Sexarbeit kehrt Baker ja nicht nur aufgrund eines Interesses am prekären Leben immer wieder zurück, sondern weil die Sexarbeit eine Logik der Ausbeutung freilegt, die in jedem intimen Verhältnis wirkt, das er seziert. Es gibt in diesen Filmen keine Beziehung, die nicht maßgeblich durch ungleich verteilte Ressourcen geprägt ist. Und die deshalb einerseits über Transaktionen austariert, andererseits mit romantischen Fantasien affektiv aufgeladen werden muss, um eine Augenhöhe vorzutäuschen. In Anis Begeisterung für die Spontanehe mit dem eben erst kennengelernten Russen, so übertrieben sie auf psychologischer Ebene anmuten mag, fallen finanzielles Kalkül, der Wunsch nach Anerkennung und affektives Mitgerissenwerden derart zusammen, dass alles ununterscheidbar wird. Das stets Vorwärtstreibende seiner Filme, und noch keiner preschte derart lang und ausdauernd vorwärts wie Anora, ist bei Baker Poetik und Politik zugleich.

Anders als für die Misanthropen des Gegenwartskinos ist die bittere Prämisse für Bakers Kino aber kein Grund, zynisch zu werden, bedeutet die Struktur der Ausbeutung nicht die Abwesenheit von menschlicher Zuneigung oder Gefühlen. Diese Filme glauben zwar nicht, anders als manche ihre Figuren, an die Romantik, weil die Romantik eben nichts von Ressourcen wissen möchte, nichts von Ausbeutung wissen darf, aber sind eben doch voller Wärme und voller Empathie für ihre Protagonist:innen, die nie klassische Sympathiefänger sind, die uns nicht wegen ihrer Handlungen und Aussagen, sondern wegen ihrer Energie für sich einnehmen. Auch mit Anora beweist Baker wieder sein Gespür für die Besetzung seiner Hauptrollen. Auch Mikey Madison verführt uns weniger, als dass sie auf uns losgelassen wird, als hätte sie jahrelang nur darauf gewartet, endlich abzugehen.

Auf neuem Terrain ein bisschen verrannt

Pretty Woman ist freilich nur der halbe Film, denn als Wanjas Eltern von der Ehe mit einer „Prostituierten“ mitbekommen, wird es ihnen zu bunt, sie buchen einen Flug nach Amerika und schicken Vanyas Patenonkel Toros (Baker-Regular Karren Karagulian) los, damit der mithilfe seiner armenischen Schergen Garnick (Vache Tovmasyan) und Igor (Yuriy Borisov aus Abteil Nr. 6, 2022) Vanyas außer Kontrolle geratenem Treiben ein Ende setzt und die Ehe so schnell wie möglich annullieren lässt. Mit dem Auftritt der Gegenspieler betritt Anora nun endgültig die Gefilde einer Mainstream-Komödie: Auf die Home Invasion folgt die Flucht Wanjas, und auf den bis ins Klamaukige reichenden Fight zwischen einer Ani im Badass-Modus und ihren körperlich überlegenen, aber dennoch bald verzweifelten Widersachern folgt eine wilde Jagd durch die New Yorker Nacht, weil Ani und die bösen Buben eingesehen haben, dass sie zusammenarbeiten müssen, wollen sie Wanja finden und ihn zur Vernunft bringen, auch wenn sie damit unterschiedliches meinen.

So bekannt also die thematischen Motive und grundlegenden Interessen aus Bakers anderen Filmen sind, so neu ist das Terrain, auf das er sich hier wagt. Und in dem verrennt er sich mitunter ein wenig. Denn was beim schamlosen Austoben mit den Motiven des Unterhaltungs- und Exploitationkinos, in dem Anora mitunter an Tarantino oder die Safdie-Brüder denken lässt, verloren geht, das ist der genaue Blick für Milieus und die Verhältnisse, die seine Figuren durchziehen. Sich einerseits vorbehaltlos der Wucht dieser Figuren verschreiben, andererseits die Zügel in der Hand behalten wollen, das wird umso schwieriger, je stärker diese Zügel in Richtung Genre und Referenzen steuern. Manchmal treffen perfekt getimte Action-Pointen und die für Baker maßgebliche Figurenautonomie verblüffen gut aufeinander, manchmal kommen sie sich in die Quere. Vor allem aber kann Empathie zu Herablassung werden, wenn Figuren sich am Ende doch einem gut vorbereiteten Schlussakkord beugen müssen. Zumindest scheint es so, als würde Ani am Ende vor allem deshalb nach Hause gebracht, um noch eine Sache für Baker zu erledigen: to drive home a point.

Noch im Slapstick eine Tragik

Auch wenn Baker die in Anora versuchte Gratwanderung also nicht in jedem Moment glückt, ist sein neuer Film die konsequente Fortführung eines im Gegenwartskino einzigartigen Blicks auf amerikanische Verhältnisse. Das Bild des American Dream wird ja häufig bemüht, um Filme zu beschreiben, die eine Geschichte ohne Happy End in den USA erzählen, die dann eben, so heißt es, diesen amerikanischen Traum hinterfragen oder gleich dekonstruieren, hinter seine Fassade gucken und auf seine Schattenseiten hinweisen. Baker nimmt diesen Traum als handlungsleitende Fantasie seiner Figuren ernst, aber auch als Schleier, der ein Sprechen über Ressourcenverteilung und Ausbeutung verhindert. So mag es hier Klassensolidarität zwischen den Superreichen geben, nicht aber zwischen denen, die sich hier in ihrem Dienste slapstickhaft die Schädel einschlagen. Noch im Slapstick von Anora steckt eine Tragik.

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