Ein leichtes Mädchen – Kritik
Ein Film aus Cannes in Cannes. Die Regisseurin von Grand Central und Planetarium ist zurück mit einer Liebeserklärung an das komplizierte Sein im Kapitalismus. Mit seiner Lust an der Verführung ist Ein leichtes Mädchen der Film des Festivals.

Kein Film fasst beim Festival in Cannes die inneren Widersprüche der Veranstaltung besser zusammen als Ein leichtes Mädchen (Une fille facile), der in Cannes selbst spielt. Während ein paar Straßen weiter Obdachlose auf der Straße schlafen, werden von den fürs Festival angereisten Gästen innerhalb von zwei Wochen 200 Millionen Euro in der Stadt ausgegeben. Mit Pomp und absurden Regeln vor allem für die Garderobe von Frauen werden Galas abgehalten – für Filme, die nicht selten die gesellschaftlichen Verhältnisse in der Welt kritisieren.
Film der Verführung

Auf sich selbst richtet das Festival den Blick nur sehr widerwillig, wenn überhaupt. Dass mit der Ehrenpalme für Alain Delon nicht nur ein Werk, sondern auch eine Person ausgezeichnet wurde, die nun einmal auch mit Chauvinismus und Rechtspopulismus in Verbindung steht, wollen die Verantwortlichen nicht hören. Kein Wunder, dass Rebecca Zlotowski, die zuletzt mit Grand Central (2013) in die offizielle Nebenreihe Un Certain Regard eingeladen wurde, ihr neues Werk Ein leichtes Mädchen nun in der unabhängigen Quinzaine des Réalisateurs zeigt. Die Reihe ist unter ihrem neuen Leiter Paolo Moretti noch offener für unterschiedliche künstlerische Ansätze als sie es ohnehin schon gewesen ist.
Ein leichtes Mädchen ist zunächst einmal ein Film der Verführung. So ist er von George Lechaptois gefilmt, geschmeidig und empathisch, nah dran und doch auch ergebnisoffen beobachtend – verführerisch, dem Bezirzen aber noch nicht erlegen. Ganz ähnlich die Protagonistin, gleichzeitig fordernd, aber nie aufdringlich. Der sichtbare String unterm Kleid, der großzügige Blick, der laszive Gang und die perfekten Manieren: Die 22-jährige Sofia (Zahia Dehar) weiß, wie sie die Männer kriegt, die sie will, jene mit dem Geld, dem Hang zum Luxus und der Bereitschaft zur Gegenleistung für ihre Aufmerksamkeit. Wir schauen ihr bei den lange verinnerlichten Balzritualen aus der Perspektive ihrer 16-jährigen Cousine Naima (Mina Farid) zu. Was könnte faszinierender sein als eine junge Frau, die genau weiß, was sie will und wie sie es bekommt?
Die Mechanismen des Zwischenmenschlichen

Von seiner Struktur her ist Ein leichtes Mädchen ein Coming-of-Age-Drama. Er fragt nach der Zukunft, nach den Wegen für Naima, nach der Gegenwart von Sofia und nach den Milieus, in denen sie sich bewegen. Noch kann sich Naima entscheiden, ihren schwulen Kumpel Dodo (Lakdhar Dridi, bekannt aus Climax) auch mal ghosten, bei ihrer Cousine und den reichen Kerlen bleiben, mit der Yacht einen Ausflug machen, Kunst und Geld bei der Vermehrung zuschauen. Durch einen Villengarten flanieren, in dem andere Regeln herrschen als in der kleinen Hochhauswohnung ihrer Familie mit der bescheidenen Einrichtung und dem verheißungsvollen Blick auf die Côte d’Azur. Naimas Weg zu folgen, und ihrem auch homoerotisch aufgeladenen Blick, heißt ihrer Neugier beizuwohnen, sie sich zu eigen machen. Es ist das dokumentarische Element des Films, das mit dem Ort, der Croisette, der Yacht, Restaurants und Nachtclubs zusammenhängt – und mit der Hauptdarstellerin.
Modeschöpferin und Model Zahia Dehar spielt als Sofia eine Rolle, die mit ihrem eigenen Image eng verbunden ist. Bekannt wurde sie, weil sie sich minderjährig als Escort für Fußballer der französischen Nationalmannschaft verdingt hat. Das zu verurteilen wäre einfach, doch Zlotowski spürt viel lieber den Mechanismen des Zwischenmenschlichen nach: den Reizen und den Reaktionen von Macht, Sex, Geld, Alter und Status. Sie schaut dabei in alle Richtungen: auf die Frau, die keinen Hehl aus dem Tauschgeschäft macht, auf die Männer, die teure Kunst sammeln und die Frau mit Geschenken versorgen, und auf das Verhältnis beider zu den allgegenwärtigen Bediensteten, Hotelmitarbeitern und Köchen. Ein leichtes Mädchen liebt selbst die schönen Oberflächen und schafft just dadurch die nötige Empathie für das moralische Dilemma, dass erst Geld frei macht, aber Geld nicht frei verfügbar ist.
Jede Generation hat ihren eigene Kampf

Zeit eines Sommers die Früchte des Luxus kosten: Zlotowski enthebt ihre Figuren nicht ihres Alltags, ihrer migrantischen Herkunft und der naheliegenden Zukunft in einer Ausbildung für ein Dienstleistungsgewerbe. Aber sie tritt ein gegen das schlechte Gewissen, das ihnen alle möglichen Männer machen wollen, die ihnen mit skeptischem Blick zuschauen, wie sie sich etwas gönnen, was sie sich eigentlich nicht leisten können. In weichen Bewegungen überführt sie die aus den Blicken sprechende Verachtung in den Fluss ungerechter Verhältnisse. Ein leichtes Mädchen macht die Kritik an ihrer Käuflichkeit gerade nicht zum moralischen Imperativ, wie man es andernorts findet.
In einer Szene wird Sofia von einer reichen Freundin des Yachtbesitzers getestet, mehrmals fragt diese nach, welche Bücher Sofia denn genau meint, wenn sie von ihrer Verehrung für Marguerite Duras spricht. Sofia weicht aus. Der Mann springt ihr zur Seite, will die Fragerei beenden. Doch Zlotowski sorgt dafür, dass Sofia alle Antworten hat. Das ist lustig, weil es den eitlen Stolz der Reichen vorführt, und fühlt sich gut an. Weil es Zeit ist, nicht mehr auf Frauen herabzublicken, nur weil sie sich äußerlich herrichten. Weil ältere Frauen, die jüngere Frauen maßregeln, sei es als Bestrafung für ihr Zuspätkommen oder ihr zu geringes Engagement für den vermeintlich einzigen richtigen Feminismus, in ihre Schranken gewiesen gehören. Jede Generation hat ihren eigenen Kampf. Schade nur, dass sich Sofia durch Hochkultur beweisen muss. Ein leichtes Mädchen nimmt diese Perspektive zum Glück selbst nicht ein, sondern offenbart, ohne vorzuführen, wie unterschiedlich der Einsatz für den eigenen Platz in der Gesellschaft ausfallen kann. Und das gerade in Cannes, wo das Festival stattfindet, das weltweit am meisten Wert auf Status legt.
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