Ammonite – Kritik
Francis Lees zweiter Spielfilm spinnt an der englischen Südküste eine Liebesgeschichte um eine Paläontologin. Auf ein erstes Lächeln von Kate Winslet warten wir über 50 Minuten. Die Konsequenz dieser Unnahbarkeit zeichnet Ammonite aus.

Mary Anning (Kate Winslet), die im 19. Jahrhundert wirklich lebte, wird uns als äußerst eigenbrötlerische Frau gezeigt. Mit ihrer Mutter bewohnt sie ein Haus in dem Küstendorf Lyme Regis, wo sie Fossilien sammelt und diese mit anderem als „Plunder“ an Touristen verkauft, ein eher prekärer Lebenswandel. Bereits in ihrer Jugend fand sie die ersten vollständigen Skelette eines Ichthyio- und eines Plesiosauriers, wissenschaftliche Sensationen bis heute. Diese und andere Funde brachten ihr die Bewunderung der Forschungsgemeinde ein, wenn auch keine wirkliche Aufnahme.
Als Bewunderer tritt auch der wohlhabende Paläontologe Roderick Murchison (James McArdle) in Annings Laden ein. Bevor er abreist, lädt er seine junge, „melancholische“ Frau Charlotte (Saoirse Ronan), der er keine Nähe geben kann, in dem Küstenstädtchen zur Erholung ab. Um sie für einige Wochen in Obhut zu geben, bietet er Anning gutes Geld, das diese widerwillig annimmt.
Kleinste Gesten des Begehrens

Mehr als Widerwille ist zu Anfang nicht zu sehen, und doch nähern die beiden Frauen sich in winzigen Schritten an. Kaum in Worten, sondern vermittelt durch Berührungen, Blicke, die umgebende Natur und die gemeinsame Arbeit. Wenigen gelingt es heute wie Francis Lee, Arbeit in gleichem Maß als Mühsal und Sinnstiftung zu inszenieren. Das Raue bis Brutale der Landarbeit von God’s Own Country (2017) wurde zurückgenommen zugunsten der zwar schmutzigen, aber vor allem filigranen und peniblen Arbeit an den Fossilien. Wir sehen beim Suchen, Sammeln, Schleppen, Reinigen, Bestimmen und Zeichnen zu.
Stéphane Fontaines Kamera rückt meist die kleinen und kleinsten Gesten des Begehrens, der Öffnung und der Annäherung ins Zentrum ihrer Bilder. Auf ein erstes Lächeln von Kate Winslet warten wir über 50 Minuten, dennoch herrscht dann bereits eine liebevolle Gewissheit darüber, dass etwas zwischen zwei Menschen geschehen ist. Fixpunkt ist dennoch Winslet, der eine liebevolle Öffnung ihrer Figur gelingt, die dabei dennoch unkommunikativ und in sich gekehrt erscheint. Überhaupt ist die Konsequenz dieser Unnahbarkeit etwas, was Ammonite auszeichnet.
Neben den Körpern sucht der Film auch in der Landschaft nach großer Intensität und, etwas seltener, paradiesischer Stille. Auf der Suche nach Fossilien bewegen sich die Figuren auf einem schmalen südenglischen Küstenstreifen zwischen stillem Grasland und dem tosenden Meer. Es wird sie später öfter ins Meer ziehen, zunächst von der Flut überwältigt, dann in ruhiger Umarmung.
Entzauberung und Ausuferung

Die wunderbarste Szene ist ein Konzertabend in der Mitte des Films. Charlottes Arzt, der Mary Avancen macht, lädt sie und auf ihr Drängen auch Charlotte dorthin ein. Während einer Laterna-magica-Vorführung erlebt Mary einen stummen Eifersuchtsanfall und erfasst mit einem Schlag ihre Gefühle für Charlotte. Dieses Begreifen, das ganz still bleibt und dennoch alles erschüttert, zeichnet den ganzen Film aus.
Wo andere Historienfilme derlei Abendgesellschaften lustvoll als eine perfekt geölte Sozialmaschine mit Liebesdrama inszenieren, sehen wir hier das Ungelenke, Kleingeistige und Anstrengende dieses Abends. Lee versteht, Kitsch und Klischees auf den Boden der Tatsachen zu holen, um, wenn es um die Leidenschaft geht, wieder auszuufern. Das dezidiert Unspektakuläre und das Tosend-Intensive sind sein Handwerkszeug. Die sexuelle Beziehung der beiden Frauen wird virtuos und explizit ausgebreitet – aber wir dürfen fragen, wie viel Intimität ihnen bleibt, wenn wir derart zum Spannen eingeladen sind.

Als Spiegel der Beziehung dient die Freundschaft von Mary zu ihrer Mentorin Elizabeth Philpot (Fiona Shaw). In nur wenigen kurzen Szenen wird hier ein komplexes Verhältnis skizziert, das die Frage aufwirft, in welche Rollen wir in Beziehungen eigentlich schlüpfen und was es dazu braucht.
Wie in seinem Vorgängerfilm sind positiv wie negativ konnotierte Gefühle konstitutiv für die Liebesbeziehung im Zentrum von Ammonite. Nähme man Besitzwillen, Distanziertheit, Eifersucht aus der Gleichung – man wüsste nicht, was bliebe. Und gleichzeitig sind es diese Gefühle, die die Beziehung so prekär machen.
Wenn später ein gemeinsames Leben tatsächlich möglich scheint, geht, zumindest auf einer Seite, etwas verloren. Vielleicht ein Reiz oder Begehren, die frenetische Leidenschaft jedenfalls scheint dahin. Zuvor war diese Liebe im Geheimen und Ungewissen geborgen wie ein Ammonit im Stein. Wie bei den Exemplaren, die Anning an Museen verkaufen musste, ist es fraglich, was aus dieser Liebe wird, sobald sie offen zutage liegt.
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