Ein Sommer zum Verlieben – Kritik
VoD: Ein Sommerfilm mit Situationskomik und eine Boy-meets-Girl-Story, die manchmal an einen Horrorfilm erinnert. Zugleich versucht Regisseur Guillaume Brac darüber nachzudenken, wie Schwarze Figuren im Kino gezeigt werden.

Eine Nacht in Paris. Am Ufer der Seine tanzen und feiern die Menschen. Einander unbekannte Leiber kommen sich nah, rücken näher, reiben sich aneinander. Zuerst allein, dann zusammen bewegen sich ein junger, Schwarzer Mann und eine junge, weiße Frau mit Locken und rotem Top – Félix (Éric Nantchouang) und Alma (Asma Messaoudene), werden wir später erfahren. Aber jetzt ist noch nicht die Zeit der Sprache, vielmehr der Flucht vor ihr und ihrer fehlenden Fähigkeit, das auszudrücken, was gefühlt und gedacht wird. Stumm drehen sich die beiden Körper mit- und umeinander, Hände ergreifen Hände, während die Füße rotieren. When a boy meets a girl.
Schöne Überraschung?

Der nächste Morgen, immer noch Paris, immer noch am Ufer der Seine. Nach durchtanzter Nacht muss Alma zum Zug und zum elterlichen Ferienhaus am Rande der Provence zurück. Telefonnummern werden ausgetauscht, Versprechungen gemacht. À L’abordage beginnt mit diesem schnellen Abschied des girls vom boy, bei dem es nicht bleiben soll. Denn Félix (Éric Nantchouang) beschließt, der neuen Bekanntschaft mit Kumpel Chérif (Salif Cissé) hinterherzureisen – und das, ohne ihr, Überraschung!, Bescheid zu geben. „Es ist eine sehr gute oder eine sehr schlechte Idee“, kommentiert die ältere Dame, um die sich der Mann Mitte 20 regelmäßig kümmert. Als Zuschauerin von Guillaume Bracs Film lässt es sich ihr nur beipflichten, sich mit ihr zeitweilig gegen das Drehbuch von Brac und Catherine Paillé verbünden, das in dem übergriffigen Akt des Nachstellens und Nachreisens so dringend seinen Humor gewinnen will.

Die ältere Dame verschwindet dann schnell wieder aus dem Film, war für ihn weniger kritische Stimme, die den Übergriff als Übergriff markiert, als Motivatorin einer Erzählung darüber, dass Gelegenheiten im Leben doch mutig mitgenommen werden müssen, sich auch mal was getraut werden muss, allen voran in Sachen Liebe: Sonst sind all die Chancen passé, die Jugend vorbei, und man sitzt wie die alte Frau alleine in der großen Metropole, die die Künste zur Stadt der Liebe erklärt haben. Ein Trio bricht also auf in Richtung des kleinen Dorfs zwischen Montélimar und Valence, um das Herz jener „holden Maid“ zu erobern: Félix, Chérif und der nervöse Fahrer Édouard (Édouard Sulpice), der eigentlich dachte, dass er nicht zwei Schwarze Männer, sondern zwei (weiße?) Frauen in dem von seiner Mutter geliehenen Auto transportieren würde (noch eine Überraschung), mit denen er auf der Fahrt flirten wollte.
Die Idylle am Ferienort

Die Mitfahrgelegenheit ist als Kontaktbörse dennoch erfolgreich. Die drei Männer lernen sich mehr und mehr kennen und müssen aufgrund einer Autopanne am Ankunftsort für eine Woche auf dem Campingplatz übernachten. À L’abordage – in dem Regisseur Brac sowohl mit jungen Theaterschauspieler*innen wie mit Laiendarsteller*innen arbeitete – ist ein Sommerfilm, der sich der Idylle der Landschaft annimmt und komische Situationen herstellt, in die die einzelnen Figuren stolpern. Im Abarbeiten an der Komödie als Form drängen sich bei der Sichtung aber auch Assoziationen an Horrorfilme auf. Denn als Félix mit Alma telefoniert, erklärt er ihr nicht direkt, dass er sich am selben Ort wie sie befindet. Stattdessen schwärmt er von den Wiesen und Bäumen, die ihn umgeben, und schickt ihr ein Foto von dem Fluss, der sich durch das Dorf schlängelt. Sie erkennt das Gewässer wieder und begreift, dass der Flirt von dieser einen Nacht in Paris ihr gefolgt sein muss. Félix kann sich über die ausbleibende Freude nur wundern.

Wenn er und Chérif im auffällig weißen, bougie Ferienort unterwegs sind, erinnert À L’abordage aber auch an Jordan Peeles Get Out von 2017, in dem das Verhältnis von Horror und Alltagsrassismus untersucht und die tradierte Idee des Schwarzen Mannes als troublemaker umgedreht wurde. À L’abordage ist da uneindeutiger unterwegs, hat in seiner Komödienhaftigkeit auch schlichtweg eine andere Agenda als Peele. Trotzdem versucht auch Brac darüber nachzudenken, wie Schwarze Körper und Figuren im Kino gezeigt werden, wenn er Fragen von race, gender und class miteinander verschneidet (freilich ohne sie zu vertiefen, als hätte er Angst, zu deutlich oder zu didaktisch aufzutreten). Der Trip in den Süden Frankreichs, für den Chérif im Supermarkt noch gelogen hatte, um frei zu bekommen (der Klassiker: Großmutter gestorben), wird zur hoffnungsvoll aufgeladenen Reise an einen anderen, exklusiven Ort, der Félix und Chérif als Schwarze, prekär Beschäftigte eigentlich verwehrt ist; ein Feriendörfchen, wo sich Natur erleben und genießen lässt, Störendes ausgeblendet wird und die zwei Freunde gegenüber ihrer Umwelt anders auftreten können als in Paris. À L’abordage erzählt all das über kleine Annäherungen der Figuren zueinander und zur Welt, die sie umgibt, in ihrem utopischen Potenzial.
Wenn die Nebenfigur den Film übernimmt

Im Laufe des Films rückt das nervige Verhältnis zwischen Alma und Félix, das von Eifersucht und Enttäuschung geprägt ist, in den Hintergrund. Die ruhige (Neben-)Figur Chérif übernimmt die Sympathien und Bracs Film. Während Männlichkeiten beim Fahrradfahren bewiesen werden wollen und die Campingplatz-Community Karaoke-Abende veranstaltet, freundet sich Chérif mit Héléna (Ana Blagojevic) und ihrem Baby an, die ohne den Kindsvater Urlaub machen. Schnell rutscht Chérif in die Rolle des hilfsbereiten Babysitters, damit Mutter Héléna auch endlich mal plantschen gehen kann. À L’abordage lässt dieses Paar am Schluss knutschen, nochmal eine weiße Frau und einen Schwarzen Mann; und vielleicht wird sich die Geschichte von Alma und Félix bei ihnen wiederholen, wenn diese neue Konstellation von boy und girl nach Filmende die Orte wechselt, beide möglicherweise wieder zueinander finden müssen. In jener Bewegung gegen Ende demonstriert der Film, für einmal aus der Unschärfe heraustretend, aber vor allem eines: die unabdingbare Lust des Kinos, daran zu glauben, dass alles gut ist oder gut sein wird, wenn auch nur für einen kurzen Moment.
Der Film steht bis zum 19.08.2023 in der Arte-Mediathek.
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