A Home with a View – Kritik

Netflix: Eine Werbetafel versperrt Familie Lo die Aussicht aus ihrer Wohnung, und der Kampf um ihr Glück eskaliert zum Wahnsinn. Herman Yaus A Home with a View ist eine überdrehte Dystopie, voller Späße und doch angsteinflößend.

Der Nachbar von unten raucht Kette und verpestet die Luft im Apartment. Der Nachbar von oben (Hongkongs essenzieller Nebendarsteller: Lam Suet) ist Metzger, der jeden Abend mit wummerndem Beil Fleischreste zu Pastete verarbeitet. Eine Zwangsräumung nebenan führt zu einer Bombendrohung. Eine betrogene Ehefrau, die sich im Stockwerk geirrt hat, schreit einen nieder: Familie Lo befindet sich in A Home with a View in einem Zustand ständiger Belagerung.

Der Terror der Nachbarn und Mitmenschen reiht sich dabei nur nahtlos in den Terror ein, den die Familienmitglieder sich selbst bereiten. Der Film beginnt mit ihrem täglichen Finanzrapport, wo jeder von seinen Ausgaben und Einsparungen berichten muss. Finanziell agiert die Familie sichtlich am Limit. Die Raten für den Kauf des Apartments sind dabei so einengend wie die Wohnung selbst. Die Kadrage bietet zwar oft sehr viel Raum und ist fast luftig. Platz oder gar Ruhe aber kann doch niemand finden. Das Frustpotenzial ist hoch, und die Kommunikation besteht vornehmlich aus entnervtem Anmaulen. Dass jemand zurücksteckt, ist die rare Ausnahme.

Die Mieten explodieren, die Nerven liegen blank

Eine Sache aber gibt es, die die Eintracht in die Familie Lo zurückbringt. Es ist der entspannende, beglückende Panoramaausblick vom Wohnzimmerfenster aufs Meer, durch die Schlucht der umstehenden Hochhäuser. Wenn die ständige Eskalation überhand zu nehmen droht, dann versammeln sich alle vor dem Fenster, und die Spannung ist dahin. Bis eines Tages ein riesiges Werbeplakat genau diese Aussicht versperrt. Auf dem Balkon der Dachwohnung wurde es zwar ohne Genehmigung gebaut, aber der dortige Mieter besteht darauf, dass dies keine Werbung sei, sondern Kunst. Weshalb auch die eingeschalteten Behörden keinen Weg finden, etwas zu unternehmen.

Die Suche nach dem „Passierschein A38“, also einer Handhabe gegen dieses Plakat im Dickicht einer Bürokratie, die jegliche Verantwortung von sich schiebt, ist dabei nur das antreibende Moment der Handlung. A Home with a View nutzt es für ein atemloses Porträt einer Stadt, in der die Nerven blank liegen, in der die Mieten explodiert sind und der Wohnungsmarkt groteske Blüten treibt, in der die Mittelschicht mit Furor gegen den Absturz ankämpft und in der jegliche Solidarität erodiert ist. Wie ein den Hang hinabrollender Schneeball wächst die Ansammlung dystopischer Momente, die dank dem völlig überdrehten Ton des Films wie Späße und Pointen erscheinen. Aber trotzdem verschwindet das klamme Gefühl, etwas Angsteinflößendes zu erleben, nie ganz.

Gegen ihr Verlorengehen kämpfende Seelen

Über den Status von Karikaturen kommen die auf Stereotype heruntergebrochenen Figuren mit ihren lediglich angerissenen Problemen dabei nicht hinaus – woraus von Anfang an kein Geheimnis gemacht wird. Wenn am sitcomartigen Beginn beispielsweise mitten im Streit punktgenau für ein Selfie gelächelt wird, dann sollen die Los schon hier für mehr stehen als sich selbst – in dem Fall für beschönigende Außendarstellungen und Social-Media-Wahn. Es ist die Schlagzahl der sich kumulierenden Problemlagen, die verhindert, dass dies eine Limitierung sein könnte. Statt ernster Analyse bietet A Home with a View spielerischen Wahnwitz, wo etwa einfach zum Spaß eine gorige Geburt auf einer Schultoilette eingebaut wird, und trifft doch sehr genau einen Nerv.

So ist das Problem mit dem Banner auch dessen Besitzer Wong Siu-Choi (Louis Koo – perfekt gecastet als unterkühlter Antagonist des von Francis Ng fast als Slacker gespielten verzweifelnden Familienoberhaupt der Los): ein arbeitsloser Werbemann, dessen letzter Strohhalm dieses Plakat ist und der mit dieser „revolutionären“ Technik in der Branche für Aufsehen sorgt. Tränenreich wird er vom frühen Tod seines Vaters erzählen und vom Glaukom seiner Mutter, bevor auch diese starb. Mit seiner Biografie ist er eine weitere Seele in diesem Film, die gegen ihr Verlorengehen ankämpft. Und doch ist mit ihm etwas anders. Vor allem: Er schreit nicht. In seinem feinen Anzug reagiert er zynisch und (scheinbar) abgeklärt, was ihn von den anderen Mietern in seinem Umfeld wesentlich unterscheidet. Wenn er von seinen Schicksalsschlägen erzählt, halten es die weinenden Zuhörer sehr bald für strategische Lügen.

Was A Home with a View interessiert, ist denn auch weniger gesellschaftliche Satire als eine Grenzverschiebung zwischen Innen und Außen. Zu Beginn sind die Grenzen nach außen äußert eng. Individuum steht gegen Individuum, wobei die anderen Familienmitglieder einen ebenso großen Störfaktor wie die Nachbarn darstellen. Letztere unterscheiden sich nur dadurch, dass sie sich nicht mit vorm Fenster einfinden. Mit dem Auftauchen der Werbung verschieben sich die Grenzmarker aber. Die Familie wächst zusammen, während die anderen Nachbarn zwar nicht zu Antagonisten wie Wong werden, sich aber auch nicht als integrierbar ins Familiengefüge zeigen.

Die Seligkeit hat einen Preis

Die gesellschaftlichen Missstände werden durch den Film somit nicht aufgelöst. Sie treten hinter dem Interesse für die familiäre Dynamik in den Hintergrund, bleiben dort aber unbezwingbar bestehen. A Home with a View offenbart sich im Laufe der Zeit eher als Familienfilm, dessen Rettungsnarrativ freilich äußerst gallig ist: Je mehr sich die Handlung nach außen richtet, desto marginaler werden die stereotypen Unterschiede zwischen den Einzelnen. Aus dem losen Bund der Los wird eine Gemeinschaft, in der die Identitäten fast vernachlässigbar werden. Es ist der zu zahlende Preis für die Seligkeit und die einzige Möglichkeit für sie.

Mit dem verlorenen Ausblick verschwinden übrigens die stillen Momente des Mitfühlens nicht. Sie stellen sich nur anders dar. Wie wenn der Opa sich von der Brücke stürzen möchte, um der Familie nicht mehr auf der Tasche zu liegen. Emotional legt ihm sein Sohn dar, dass er ihm dabei nicht untätig zusehen kann. Weil sein Leben nicht weniger wertvoll als das der anderen ist … und sie auf der Brücke von Überwachungskameras beobachtet werden. Makaber und unbedingt uneindeutig nähert sich A Home with a View dem Schmerz seiner Figuren – den suizidalen Tendenzen Wongs, dessen Leid niemand ernst nimmt, oder dem zu Wahnsinn werdenden Kampf der Los für ihr kleines Fünkchen Glück. Dass die Familie und nicht der Einzelgänger Wong im Mittelpunkt steht, ist denn auch schon die erste Voraussetzung für den Spaß, den der Film bereitet. Denn mit einer Familie lässt sich vor der garstigen Realität wenigstens gesellig in den Abgrund der seelischen Zerrüttung springen.

Ansehen kann man sich den Film auf Netflix.

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