Filmfest Hamburg 2016: Sehtagebuch
Von alten Bekannten und Strebern: Während der chilenische Filmemacher Ignacio Agüero ein guter Zuhörer bleibt, wollen die US-Indie-Altklugen Tim Sutton und Miles Joris-Peyrafitte lieber selbst erzählen. Was beim einen nervt, macht beim anderen Spaß.
The Winds Know I’m Coming Back Home von José Luis Torres Leiva

Das Filmfest Hamburg eignet sich hervorragend dazu, auf der Leinwand alte Bekannte wiederzutreffen. Auch wenn mein Liebling Raúl Perrone in diesem Jahr nicht dabei ist, treffe ich wenigstens Ignacio Agüero wieder. Vor drei Jahren habe ich dem sympathisch-kauzigen Filmemacher aus Chile dabei zugesehen, wie er in seiner Wohnung in Buenos Aires saß und allen, die an der Tür seines gutbürgerlichen Hauses klingelten – ob Verkäufern, Bettlern oder Verirrten – einen Gegenbesuch abstattete. Jetzt begleite ich ihn auf eine Reise in den Süden von Chile, wo er auf einer abgelegenen Insel eine Romeo-und-Julia-Geschichte inszenieren will. Ob er das nun wirklich möchte oder ob er nur eine Filmfigur ist in José Luis Torres Leivas The Winds Know I’m Coming Back Home, das ist mir bis zum Schluss nicht ganz klar. Der Film trägt das Dokumentarische seines Inselporträts vor sich her, wartet aber auch mit Schnitten auf, die jegliche Spontanität negieren. Und es ist natürlich auch egal. Agüero veranstaltet ein Casting mit ein paar 14-Jährigen, er lernt das Leben auf der Insel kennen, interessiert sich zunehmend für ihre geografische Zweiteilung nach Nachnamen (indigen oder spanisch), die für eine noch heute nachhallende rassistische Spaltung gesorgt hat. Die Legende von einem jungen Pärchen, das einfach irgendwann verschwunden ist, wollen manche der Bewohner gehört haben, andere nicht. Den Film, der diese Legende inszeniert, wird es wohl nicht mehr geben; das Porträt aber, das die realen Bedingungen dieser Legende untersucht, ist schön geworden.
Dark Night von Tim Sutton

Dark Night von Tim Sutton ist dann ein Film, der mich mit seinen ersten Einstellungen unmittelbar in seinen Bann zieht, aber spätestens mit dem dritten Weltschmerz-Popsong wieder abstößt – auch wenn diese Songs die durchaus eindrücklichen Bilder von Kamerafrau Hélène Louvart (die schon für Wenders, Doillon und Varda gearbeitet hat) unterlegen und obwohl ich Suttons Memphis sehr mochte. In Dark Night verarbeitet der Regisseur Elephant-mäßig die Geschichte jenes Amoklaufs in einem Kino in Colorado, in dem ein junger Mann während einer Vorstellung von The Dark Knight Rises zwölf Menschen erschoss. Weiß man davon vorher, erweist sich der Film als Kalkül, als letztlich risikoarmer Versuch, dem sensationalistischen Gegenstand ein arty Gewand anzulegen. Weiß man davon nicht, wähnt man sich bald in einem 08/15-Exploit-alienation-Film über die „amerikanische Gegenwart“, der Harmony Korine sein will und gleichzeitig Matt Porterfield: Menschen machen Selfies und mixen sich gesunde Sportler-Shakes, Irakkriegs-Veteranen verarbeiten ihre Traumata, ein paar Kids haben nichts und skaten, eine Vogelperspektive auf absurd symmetrische Suburbia-Anordnungen erzählt ein bisschen was von Konformismus. Alle sind angeblich kalt und distanziert, dabei ist genau das eigentlich nur dieser Film, und dabei vor allem altklug.
As You Are von Miles Joris-Peyrafitte

Altklugheit könnte man auch dem gerade mal 23-jährigen Miles Joris-Peyrafitte vorwerfen, denn er hat nicht nur einen hipsterigen Namen, für den er nichts kann, sondern auch den Inbegriff eines Streberfilms gedreht: Sein in Sundance prämierter Debütfilm ist vollgestopft mit eigentlich kaum auszuhaltenden Indie-Klischees: Highschool-Zeitlupen (Kiffen, Klippenspringen, durch Schulflure streifen), penetrante Grunge-Klänge, Teen-Angst mit cute characters, ausgestellte visuelle Originalität, „cleveres Erzählen“, und das Ganze dann nochmal ein bisschen queer aufgeladen. Allein: Der Film macht großen Spaß. Das mag an den drei tollen Darstellern liegen (Charlie Heaton aus der Netflix-Serie Stranger Things, Amandla Stenberg aus den Tributen von Panem, Owen Campbell aus The Americans), die eine dem Tode geweihte freundschaftliche Dreiecksbeziehung mit Leben füllen. Aber eben auch an der unbekümmerten oder vielleicht einfach jugendlichen Herangehensweise des Regisseurs, der von Kelly Reichardt und Soo Yong-Kim, seinen Lehrerinnen am New Yorker Bard-College, vor den schlimmsten Jugendsünden bewahrt worden sein mag.
Von Anfang an unterbrechen Verhörszenen aus der Zukunft in True-Detective-Manier den Flow der Erzählung und künden von einem kommenden Verbrechen. Auch das ein eigentlich ultranerviges, leicht durchschaubares Gimmick, das trotzdem funktioniert, weil es derart in your face daherkommt, dass man selig damit erschlagen wird, bevor man sich beschweren kann – ebenso wie jene Flaschendreh-Szene, die aus dem Inneren der Flasche gefilmt ist; bei der man sich vor den Kopf schlägt und dann doch irgendwie fasziniert ist, wenn sich irgendwann ein Gesicht wie in einem Zielfernrohr im Rund der Flaschenöffnung befindet. Vor allem ist Joris-Peyrafittes Ansatz stimmig, weil seine Geschichte in den frühen 1990ern spielt, weil Kurt Cobain noch ein absolutes role model ist, dessen Tod unsere Figuren ziemlich hart trifft. Vielleicht fühlen sich die Indie-Klischees von As You Are auch deshalb weniger kalkuliert als lustvoll an (der entscheidende Unterschied zu Dark Night, der dem Paradox erliegt, aus jedem Bild „subtil!“ zu schreien), weil es hier weniger um das Gepose eines Debütanten zu gehen scheint als darum, den Suicide Chic als Lebensgefühl ernst zu nehmen.
Wenn jedenfalls Truffaut mal gesagt hat, dass ein guter Film entweder die Freude am Filmemachen oder die Angst davor ausdrückt, dann mag in Joris-Peyrafittes Film viel zu wenig von Letzterem spürbar sein, dafür umso mehr von Ersterem. As You Are ist irgendwas zwischen einer völligen Überdosis wirklich jeder Zutat des hippen Sundance-Rezepts und der „I-don’t-care-I-just-do-it“-Attitüde des original wunderkinds Xavier Dolan. Mal sehen, wie es weitergeht.
Kommentare zu „Filmfest Hamburg 2016: Sehtagebuch“
Es gibt bisher noch keine Kommentare.