Wer ist hier radikal? Eindrücke von den Hofer Filmtagen (2)
Ein Ensemble alter Fassbinder-Diven verbessert ein wenig mordend die Welt. Bei Dominik Graf triumphiert aus unzugänglichen Gründen die Liebe. Ulrich Seidl beobachtet das Zerlegen einer Giraffe.

„Früher waren wir bis fünf Uhr früh im Kino“, sagt die Frau in der Reihe hinter mir. „Mit Bier und Zigaretten, alles vollgequalmt. Das war der totale Absturz.“ Jetzt laufen die spätesten Vorstellungen um Mitternacht. Immerhin dürfe man in Hof noch Hunde mit ins Kino nehmen, erklärt mir meine Sitznachbarin. Nur nicht während der Filmtage. Die schönen Bügelbierflaschen ploppen trotzdem reihenweise, wenn der Sponsoren-Vorspann vorüber ist, das scheint ein Ritual zu sein. Kinos voll, Stimmung gut.
Ich lande nacheinander in drei Fernsehfilmen, weil mich die Namen locken: Aelrun Goette (Die Kinder sind tot, 2003) hat einen Tatort gedreht. Axel Ranisch (Dicke Mädchen, 2001) inszenierte seine erste ARD-Prime Time-Komödie. Und Dominik Graf (Die geliebten Schwestern, 2013) eine Raubkunst-Geschichte mit Nähe zum Fall des Cornelius Gurlitt.
Weltverbesserung durch Anarchie

Der Tatort Wofür es sich zu leben lohnt bringt für den letzten Auftritt der von Eva Mattes gespielten Kommissarin Klara Blum ein Ensemble alter Fassbinder-Diven zusammen: Hanna Schygulla, Irm Hermann und Margit Carstensen. Das Trio darf sich als Racheengel austoben, es fließt das Blut von Kapitalisten und Rassisten. Die einstigen Darstellerinnen aus Zeiten des Deutschen Herbstes bilden eine Alters-WG, um den Herbst ihres Lebens würdevoll zu begehen und ein wenig mordend die Welt zu verbessern. Irm Hermann rollt die schräg stehenden Pupillen, dass es eine Freude ist.
Familie Lotzmann auf den Barrikaden ist eine vergnügte Familienkomödie von Axel Ranisch, in deren Mittelpunkt die Reparatur eines alten Staubsaugers namens Fuzzbuster 500, die Rettung eines Wellensittichs und einer langjährigen Ehe stehen. Jörg Gudzuhn, Gisela Schneeberger und Eva Löbau geben die Lotzmanns, der Plot arbeitet sich aus dem Mief deutscher Rentnerwohnzimmer immer anarchischer zur Terrorismus-Hysterie-Satire vor. Das sei bestimmt die Speerspitze des Ungewöhnlichen bei der ARD, habe jemand bei der Sender-Abnahme des Films gesagt, erzählte Produzentin Alexandra Kordes.
Love is the answer

Mit der Speerspitze gekonnten Handwerks zielt Dominik Graf in Am Abend aller Tage. Es geht um die Jagd nach einem eventuellen Stück Raubkunst und um die Verwicklung in eine Liebesgeschichte zwischen junger Millionenerbin in spe, die wild mit den Händen malt, dementsprechend als psychisch labil eingeführt ist (Victoria Sordo), und aalglattem Kunstjäger (Friedrich Mücke), der (auch im Bett) alle Register zieht, um seinen Auftrag zu erfüllen, und schließlich doch beim „Ich liebe dich“ landet. Die Gefühlsregungen im Spiel von Friedrich Mücke und im Plot, so überhaupt intendiert, sind gut versteckt. Warum in diesem Film ausgerechnet die Liebe triumphieren soll, bleibt mir unzugänglich.
Interessant: Bei allen drei Produktionen ernten die Senderverantwortlichen Lob und beglückwünschen sich selbst für ihre eigene Radikalität, Stoffe und Erzählweisen zuzulassen, die ein wenig mehr Eigensinn und eine klare Handschrift haben. Kann sein, ich meckere um des Meckerns willen. Aber bei aller kreativen Energie, Lust am Spiel und an der Visualität ist doch das Format „TV-Film“ sehr dominant. Und das liegt nicht nur an der vorgegebenen Länge von 90 Minuten oder dem Tatort-Fadenkreuz am Anfang. Wenn sehr gut gemachte Unterhaltung mit Gegenwartsbezügen schon Radikalität bedeutet, dann steht die Revolution ja schon vor der Tür.
Tiere schießen

Radikalität wird auch Ulrich Seidl nachgesagt, nur mit mehr Berechtigung. Sein stilisierter Blick auf menschliche Sehnsuchtslandschaften, die immer auch Horrorlandschaften sind, ist zur Marke geworden. In Hof lief sein neuester Film Safari, der wie immer unter künstlerischer Mitarbeit von Veronika Franz entstanden ist. Safari zeigt deutsche und österreichische Touristen auf organisierter Trophäenjagd in Namibia. Schauplatz ist die Leopard Lodge, erbaut nach Ende der deutschen Kolonialzeit, aber deren Geist bis heute konservierend. Das Töten – die Protagonisten verwenden das schönere Wort Erlegen – verläuft streng nach Preisliste: Ein Zebra kostet 790 Euro, eine Giraffe 1370, den Preis für einen Leoparden gibt es auf Anfrage. „Elefant tat mi a interessiern“, sagt ein junger Mann, vielleicht ist er auch noch im Teenageralter. „Ich möchte gern, dass du ein Gnu schießt“, sagt die Mutter zu seiner Schwester.
Beim Sterben zuschauen
Der Film hat seine komisch-deprimierenden Momente, etwa wenn es der korpulente Rentner kaum auf den Hochsitz schafft, dort oben Bierdose um Bierdose leert und seine Tour in die Wildnis laut schnarchend mit dem Kopf auf der Brust beendet. Die Herde Giraffen möchte man am liebsten vor dem Grüppchen zahlungskräftiger Touristen warnen, das sich mit vor Aufregung geröteten Wangen heranpirscht. Aber die Giraffen schauen nur herüber – auch noch, als eine von ihnen getroffen wird, als sie mit Krach zu Boden geht und ihren langen Hals noch eine elende Weile hin- und herpendelt. Die Jäger bekommen glänzende Augen, atmen schwer, manchmal weinen sie nach dem Adrenalinausstoß. Dann gibt es Umarmungen – „Waidmannsheil!“ –, und das tote Tier wird fürs Foto zurechtgerückt.
Schwarz-Weiß-Dialektik

Die Jäger, das sind die Weißen. Das Personal der Leopard Lodge, das sind die Schwarzen. Die ökonomischen Machtverhältnisse sind die gleichen wie bei Paradies: Liebe (2011), wo sich europäische Touristinnen Sex mit jungen Kenianern kaufen. In Safari kaufen die Weißen das Recht, ein Wildtier zu töten. Und die Schwarzen bringen die Kundschaft mit den Jeeps in den Busch, assistieren beim Aufspüren, transportieren die riesigen Tierkörper nach dem Schuss und zerlegen sie in schweißtreibender Arbeit: Haut von der Fettschicht säbeln und wie eine Decke zusammenlegen, Hufe abschneiden, Kopf abschneiden, Därme und Mägen herauszerren, die sich plötzlich wie Airbags aufblähen, mit dem Schlauch das Blut wegspritzen. Eine lange Sequenz beobachtet das Zerlegen der Giraffe. Wer kein Blut sehen will, verlässt den Saal.
Mensch – Tier – Stück
Den impliziten Rassismus der hierarchischen Verhältnisse zwischen Jagdtouristen und Lodge-Angestellten stellt Ulrich Seidl in seinen statischen Bildarrangements eisern aus. Die weißen Protagonisten reden über ihre Aufregung und ihr Glücksgefühl beim Jagen. Beim Anlegen des Gewehrs nehme sie nichts anderes um sich mehr wahr, erzählt die Tochter mit freudiger Erregung: „Nur das Stück und du – nichts sonst.“ Stück – bezeichnende Sprache der Jagd. Die schwarzen Arbeiter stehen in Tableaus zwischen ausgestopften Tierköpfen und blicken stumm in die Kamera – eine Projektionsfläche für allerlei ungute Assoziationen. Manchmal nagen sie Knochen ab. Bei der Jagd bekommen traditionell die Hunde als Belohnung die Innereien der Tiere. Hier kaut das Personal auf undefinierbaren Schlachtresten herum.
Safari löst ein Feuerwerk an Staunen über die menschliche Spezies aus. Was hat es mit dieser Erregung, etwas Lebendiges zum Tode zu befördern, auf sich? Was sähen Seidls Protagonisten, wenn sie sich selbst im Kino anschauten? Was hätten jene zu sagen, die schweigend das Wild zerlegen und uns regungslos ansehen? Wer fühlt sich durch wessen Blick repräsentiert? Es bleiben die Bilder vom Stolz der Jäger, die hinter ihren gekauften Tierkadavern mit dem Gewehr posieren. Ein vertrauter, ein absurder Anblick.
Hier geht es zum ersten Teil unserer Berichterstattung aus Hof: www.critic.de/special/sehnsucht-nach-dem-staunen-eindruecke-von-den-hofer-filmtagen-4066/
Kommentare zu „Wer ist hier radikal? Eindrücke von den Hofer Filmtagen (2)“
Martin Betzwieser
Mein Abschied von den Hofer Regional-Fernsehspiel-Tagen:
Das Filmfestival zum Abschied nehmen - https://www.freitag.de/autoren/martin-betzwieser/das-filmfestival-zum-abschied-nehmen