Unmittelbar unspektakulär – Locarno 2016 (II)

Große Namen seien im Wettbewerb von Locarno in diesem Jahr Mangelware, heißt es von Kollegen. Dabei haben sie einfach den falschen Begriff von großen Namen. Über die neuen Filme von João Pedro Rodrigues, Axelle Ropert und Matías Piñeiro.

The Ornithologist (O Ornitólogo) von João Pedro Rodrigues

The Ornithologue

Vögel zu beobachten, das kann eine ganz schön erotische Angelegenheit sein. Jedenfalls bei João Pedro Rodrigues. Der Portugiese erzählt darin, wie ich inzwischen nachlesen konnte, die Geschichte des Heiligen Antonius von Padua. Das zu wissen, kann einen darauf vorbereiten, dass irdische Logik nicht allzu lange trägt. Wobei es natürlich zum Vergnügen der Filmerfahrung gehört, eher nicht so genau zu wissen, was auf einen zukommt. Denn Rodrigues hat mit The Ornithologist (O Ornitólogo) nicht nur einen sehr wechselhaften Film gedreht, sondern vor allem einen sehr sinnlichen. Das überrascht bei Rodrigues freilich nicht. Umso wundersamer aber, wie sich eine queere Perspektive als Heilmittel einer aus den Fugen geratenen Gegenwart erweisen kann und filmisch zusammenhält, was dramaturgisch in kleinen Episoden auseinanderzufallen droht. Während der titelgebende Vogelbeobachter Fernando (Paul Hamy) seinen übers Smartphone anwesenden Freund auf Distanz hält, begegnen ihm perverse Chinesinnen, Karnevalsfiguren, ein Gehörloser namens Jesus und immer wieder: Vögel. Aufregend ist das vor allem, weil Rodrigues das spektakulär-unspektakulär in Szene setzt. Noch jede Entdeckung auf dem Weg ist auch eine Entdeckung des visuellen Erzählens, einer (Natur-)Erfahrung, die immer schon filmisch und allgemein kulturell aufgeladen ist, sich aber zugleich unmittelbar anfühlt.

La Prunelle de mes yeux (The Apple of my Eye) von Axelle Ropert

The Apple of my Eye

Das Unspektakuläre war schon in Axelle Roperts vorherigem Film Tirez la langue, mademoiselle (deutscher TV-Titel: Sagen Sie mal „A“!, 2012) das Markenzeichen einer beeindruckenden Empathie mit dem Undramatischen. Ihr neuer Film ist nun näher am klassischen Genrebeitrag einer romantischen Komödie. Die Gemächlichkeit und die Zurückhaltung sind geblieben, obwohl der Plot weiter in den Vordergrund rückt. Um sich den Humor vorzustellen, kann man an den Slapstick eines Tip Top (2013) von Serge Bozon denken, an dessen Drehbuch Ropert beteiligt war, und an eine lieblich-niedliche Version der Aggressionslust, die aus vielen Buddykomödien à la Hangover (2009) sprudelt. Schadenfreude – oder ist das schon Fremdschämen – ist ein wichtiges Motiv. Das Absurde und das Offensichtliche sind die Pfeiler der Erzählung: Zwei griechische Brüder fahren Aufzug, begegnen dabei zwei französischen Schwestern. Immer wieder. Eine der Schwestern ist blind. Beide Brüder sind erfolglose Musiker. In der gegenseitigen Ablehnung nähern sie sich an, ein Bruder spielt einen Blinden, was ihm bei der Frau und für die Karriere hilft. Klischeeszenen des Genres werden ausgewalzt, die Missverständnisse häufen sich, der Film ist aber längst meta. Wobei, auch das ist schön an Roperts Haltung: Nie erhebt sich ihr Blick über die Figuren, auch dann nicht, wenn sie sich über sie lustig macht.

Hermia & Helena von Matías Piñeiro

Hermia and Helena 01

Der Argentinier Matías Piñeiro hat einen dritten Film mit Shakespeare-Bezug gedreht. Mich interessiert das aber irgendwie nicht. Also, der Shakespeare-Teil. Der Film schon. Es steht zu befürchten, auch weil ich Hermia und Helena im falschen Multifunktionssaal sehe, dass ich ihn ziemlich verquer wahrnehme. Keine 90 Minuten lang, und doch sehne ich mich nach der drängenden Kürze von Piñeiros Vorgänger La princesa de Francia (2014) zurück. Gleichzeitig gefällt mir die verschachtelte Geschichte mit den vielen Zeitsprüngen und inkohärenten Lebens- und Liebeslagen am besten dann, wenn sich der Regisseur viel Zeit lässt. Gegen Ende gibt es eine Szene, die ich nicht im Detail erzählen möchte, weil ihr Überraschungsmoment etwas bedeutet. Diese Szene aber, gerade weil sie eine neue Tonalität hineinbringt und sich auch stilistisch herauslöst, lädt plötzlich den leichten, hoffnungsvoll-aparten Reigen mit Bedeutung auf. Bedeutung, die nicht notwendig wäre, sich aber schön fügt, weil die argentinischen Künstlerinnen, die in der New Yorker Künstlerresidenz weilen, sich gerade vor ihr drücken, auch weil sie von ihr erdrückt werden. Piñeiro gelingt es erneut, Blicke und Perspektiven von Anfang-Mitte-Zwanzigjährigen ineinanderzustaffeln. Mit einer bravourösen Leichtigkeit fängt er die aufflammende Quarterlife-Crisis ein, die dunklen Wolken ziehen herauf, aber sie dürfen auch wieder verfliegen, ohne Grund.

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