Geht Cannes die Großzügigkeit aus? Über Veränderungen beim Festival 2018
Exklusivität und Großzügigkeit sind zwei der Pfeiler des Erfolgs von Cannes. Was das Festival von fast allen anderen unterscheidet, wie das zunehmend infrage gestellt wird und inwiefern Cannes jetzt einen auf Berlinale macht.

Cannes öffnet sich immer weiter für anderes Kino. Das hat gewaltige Auswirkungen darauf, wie das Festival wahrgenommen wird, ist aber nur ein kleiner Teil davon, wie es nach außen und in Kontakt mit seinem Publikum tritt. Im Grunde ist es sehr zu begrüßen, wenn Kuratoren und Auswahlkomitees von der Exklusivität ihres Kunstanspruchs abrücken und vor allem ihr Privileg, diejenigen zu sein, die die Kriterien für die Definition von Kunst festlegen, infrage stellen. Ob das in Cannes nun gegeben ist, darf allein schon angesichts der Äußerungen von Festivaldirektor Thierry Frémaux zur Abwesenheit von Regisseurinnen angezweifelt werden. Andererseits gab es in diesem Jahr doch einige Filme, die eine solche Infragestellung offenbarten.
Neue Stimmen wurden in Wettbewerb und Un Certain Regard eingeladen, die sowohl als Personen als auch, noch wichtiger, durch ihre Werke andere Perspektiven eröffneten. Die besseren Beispiele dafür waren in meinen Augen Knife + Heart von Yann Gonzalez oder der kenianische Film Rafiki von Wanuri Kahiu. In anderen Fällen war es filmisch schwer(er) auszuhalten, wie bei Yomeddine, Girls of the Sun oder zu geringeren Teilen Capernaum. Vielleicht muss ein Festival wie Cannes, das die Befangenheit seiner Präferenzen selten wahrzunehmen scheint, aber auch einfach durch dieses Tal der Repräsentation entlegener, aber unergiebiger Positionen durch, um zu verstehen, wie vielfältig das Kino wirklich sein kann.
Was starke Filme ausgleichen können
Man stelle sich einmal vor, wie viel großartiger Cannes noch sein könnte, wenn es eine tatsächliche Öffnung hin zu anderen Filmen, etwa auch zu experimentelleren Formen, kombinieren könnte mit seinem Gespür für ästhetische Spannung! Stattdessen scheint die zunächst politisch begrüßenswerte Veränderung des Festivals eher anzuzeigen, dass Cannes sich an der Berlinale orientiert: Präsentation von bestimmten Ländern oder Minderheiten, koste es, was es wolle, ist ja schon seit Langem ein definierendes Prinzip in Berlin und lässt die Filmauswahl oft zu kalkuliert erscheinen. Noch geht Cannes nicht in diese Falle, weil es als Ganzes überwiegend starke Filme zeigt und die ein oder anderen Patzer leichterhand ausgleicht. Das kann sich jedoch schnell ändern, vor allem, wenn man auf die praktische Seite der Veränderungen in diesem Jahr schaut.
Zur Wirkung eines Festivals gehören viele Kleinigkeiten, etwa die Stimmung ihrer Mitarbeiter, die Sprache, die gesprochen wird, das Programmraster, die Einlassprotokolle und Einladungspolitiken. Formale Fragen greifen in informelle Praktiken, und beides ist gleichermaßen wichtig, weil es zusammen das Gesicht des Festivals ausmacht. Mir scheint, an der einzigartigen Position und auratischen Wirkung von Cannes haben diese Dinge einen entscheidenden Anteil. Was viele nicht wissen: Das französische Festival ist nicht nur exklusiv, sondern im Gegenzug zu den Beschränkungen von Zugang, kleiner Filmauswahl, vielen Hierarchien und langen Schlangen in vielerlei Hinsicht auch sehr großzügig.
Einladungen, keine Tickets

Weder Akkreditierungen noch Karten kosten auch nur einen Cent. Wer Zugang erhält, der bekommt eine „Einladung“ und löst just keine „Tickets“. Weil es für Fachbesucher ein Punktesystem gibt, nach dem die Einladungen verteilt werden, können Fans ohne Akkreditierung ziemlich leicht Einladungen ergattern – denn wer seine nicht nutzt, sollte sie besser rechtzeitig zurückgeben oder verschenken, sonst kriegt er Minuspunkte. Dass alle Fachbesucher mit viel Kaffee und oft auch anderen Getränken versorgt werden, ist kein kleines Detail. Last but not least gehört zur Cannes-Erfahrung auch, dass jeder, der das Festivalgelände oder einen Kinosaal betritt, mindestens an drei Stellen, meistens sogar mehr, freundlich begrüßt wird. Selbst Platzanweiser sagen jedem Gast guten Tag.
Nun haben sich diese Dinge nicht verändert, aber der Umgang mit der Presse war in diesem Jahr plötzlich ein anderer. Zwar genießen akkreditierte Journalisten weiterhin privilegierten Zugang zu den Filmen und zuvorkommende Arbeitsbedingungen samt eigener großer Terrasse auf dem Dach des Palais. Doch die verstärkten Versuche, den gewachsenen Biorhythmus des Festivals in eine neue Richtung zu steuern, sind ziemlich heikel. Denn die höfische Kultur und die stramme Hierarchie, die ebenfalls zu Cannes gehören, wurden bislang immer auch dadurch ausgeglichen, dass das Festival keinerlei Versuche unternahm, die Berichterstattung einzuschränken. Im Gegensatz zur Berlinale etwa hatte es bis dato keine Embargo-Regelungen verhängt – wer etwas gesehen hatte, durfte darüber sprechen und schreiben.
Ein gestörter Biorhythmus
2018 wurden die Abfolge der Vorführungen umgestellt und die Vorab-Pressevorführungen des Wettbewerbs mit wenigen Ausnahmen abgeschafft. Ich gehöre vermutlich zur Minderheit, die damit kein grundsätzliches Problem hat. Im Prinzip jedenfalls habe ich nichts dagegen einzuwenden, wenn auf einem Festival Journalisten die Filme zum gleichen Zeitpunkt sehen wie alle anderen. Die Vorab-Screenings halte ich für einen hilfreichen Service, der hauptsächlich den Filmen selbst und ihrer Bewerbung etwa durch Interviews dient, weil Texte dann zeitnah zur Premiere erscheinen können. Problematisch dagegen finde ich, wenn Journalisten zu viele Regeln auferlegt bekommen und wenn es plötzlich auf einem Festival Maulkörbe gibt. Genau das war nun aber der Fall.
Denn die Veränderung der Vorführungsabfolge hatte explizit zum Ziel, dass es keine Berichterstattung, egal welcher Art, vor der jeweiligen Premiere mehr geben sollte. Weil aber nicht alle Journalisten alle Filme zum selben Zeitpunkt sehen würden, sondern einige auch zur früheren Premiere eingeladen wären, kombinierte das Festival die Abschaffung der Vorabvorführungen noch zusätzlich mit einem Embargo inklusive Social Media – bis zum Ende der ersten Pressevorführung eines jeden Wettbewerbsbeitrags, was regelmäßig erst am Tag nach der Premiere war.

Dieses Embargo soll Ungleichheiten einebnen, sorgt aber nur dafür, dass Meinungen halb-öffentlich kursieren und die Spannung vor der ersten (Presse-)Vorführung einem Grummeln weicht: dem, dass die Würfel doch längst gefallen sind, ohne dass man genau weiß, wie. Für die eigene rein cinephile Entdeckung spielt das keine große Rolle, für die Stimmung beim Festival aber umso mehr. Es ist nun mal etwas anderes, ob man einen Film aufgrund der Reaktionen anderer guckt, wie das in den Nebenreihen oft der Fall ist, oder man ihn sowieso sehen will oder muss, aber aufpassen muss, nicht aus Versehen doch schon halbinformierte Meinungen darüber aufzuschnappen, die unweigerlich in die Rezeption hineinspielen. Gerade weil es so schön sein kann, einen Film zu sehen, ohne viel darüber zu wissen, ist das neue System zumindest in Teilen ein Rückschritt. Nebenbei sorgt es für das komische Gefühl, dass hier plötzlich die frühere Souveränität des Festivals, auch mit negativer Kritik oder Buhrufen lässig umzugehen, einer Form von Engstirnigkeit weicht.
Lappalien, die wirken
Das alles mag Außenstehenden läppisch erscheinen. Das ist schon auch so. Nur kommt es auf Lappalien öfter an, als man denkt. Wer sich Gedanken über den Geist von Cannes und seiner Außenwahrnehmung macht, sollte diese Veränderungen jedenfalls einberechnen. Genauso wie bei der Berlinale die auf den ersten Blick vielleicht eher nebensächliche Erhöhung der Akkreditierungsgebühren eine nachhaltige Verstimmung bei vielen Fachbesuchern verursachte, könnte Cannes mit diesem neuen Schema Kritiker vergraulen und sorgt schon heute für weniger Beiträge besonders in Printmedien.
Was wir in Cannes letztlich beobachten können, ist eine sehr langsame Wende des Festivals, das seine bisherige Großzügigkeit, die auch eine der geringen Regulierung war, infrage stellt. Während die Exklusivität seines Kunstanspruchs möglicherweise nach und nach schwindet, könnte der Umgang mit der Presse die Kehrseite davon sein. Der Verdacht liegt nahe: Wer weniger an seine eigenen Filme glaubt, muss sich absichern, dass Kritiker nicht zu schnell darüber kommunizieren.












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