Ganz Junge Kritik in Cannes - Whisper with the Wind
Todesschrei
Der Regisseur Shahram Alidi behandelt in seinem eindringlichen Roadmovie Sirta la Gal ba den verheerenden Krieg gegen das Volk der Kurden im Irak. Kurdistan, ein geographisch zersprengtes Territorium mit einer Geschichte geprägt von Leid und Qualen, ist Ort und zugleich Gegenstand des Films. Es ist ein Kampf um Freiheit, um Leben und Tod, um die nackte Existenz.

Mam Balbar, ein alter Mann spielt die Hauptrolle. Er ist Postbote, mehr als das, er ist ein Botschafter: er übermittelt Nachrichten, aufgenommen auf Kassetten. Persönliche Botschaften zwischen Menschen, für die jeder Informationsaustausch durch die Vernichtungspolitik der Iraker zur tödlichen Bedrohung wird. Mam Balbar ist es, der die Menschen miteinander vernetzt, denn die Kurden leben abgeschottet in gebirgigen Tälern, ständig auf der Flucht vor Soldaten.
Die Landschaft, beeindruckend eingefangen in langen, lang anhaltenden Totalen, ist lebensfeindlich, ist karg und verlassen. Die Täler sind letzte Zufluchtsstätten: denn hinter den Gebirgskämmen lauert der blanke Terror. Menschenfeindliche Natur und Menschen, die die Auslöschung der Kurden vorantreiben.
Die von unbarmherziger Verfolgung bedrohte kurdische Kultur ist eine orale Kultur, eine Kultur die auf mündlicher Überlieferung beruht. Dem Regisseur gelingt es, die Stimme dieser bedrohten Kultur einzufangen. „Whisper with the wind“ - Windböen, durchmischt mit kurdischen Gesängen, den durchdringenden Schreien der Sterbenden, den Klagen der Überlebenden, Hilferufe eines vom Tode bedrohten Volkes. Nur das Radio ist das letzte noch verbliebene Bindeglied zwischen den bedrohten Menschen. Doch auch das wird ihnen von den Unterdrückern noch genommen. Zu den Klagen treten verstörende Bilder: Eine Hochzeitsgesellschaft, die verschwindet; Menschen, die gequält und getötet werden. Der Tod ist in Kurdistan allgegenwärtig. Und der Wind, der von ihm spricht, der immer wieder über die Toten und Lebenden streicht und ihre Stimmen in sich aufnimmt.
Kritik von Merve Gökalp und Julia Balla (Ottheinrich Gymnasium, Wiesloch)
Ein Schrei der Hoffnung
Ein Mann mit dem Rücken zum Zuschauer auf einem Felsen. Unter ihm ein Nebelfeld. Dieses Bild hat etwas von Caspar David Friedrichs „Wanderer über dem Nebelmeer“: Die Undurchsichtigkeit, das Mystische der Umgebung, die Ehrfurcht vor der Natur. Über solche starken Bilder kommuniziert der ehemalige Kunststudent Shahram Alidi in seinem ersten Langfilm „Sirta la gal ba“ („Whisper with the wind“) mit dem Zuschauer.
Die Figuren des Films kommunizieren mit Hilfe von Mam Baldar. Er ist Postbote. Fast jedenfalls. Nur, dass er keine Briefe, sondern Kassetten überbringt. Kassetten, die die Stimmen, Ängste und die Verzweiflung der verschiedensten Menschen auf einer Tonspur festhalten. Sie sind nicht vergänglich wie die geschriebene Nachricht auf dem Wagen von Mam, die im nächsten Augenblick bereits vom Regen abgewaschen wird. Sie erreichen übers Radio die über das weite Land versprengt lebenden Kurden, immer untermalt, getragen vom vorantreibenden Wind. Auf den ersten Blick mögen diese Einzelschicksale nicht genug beleuchtet scheinen. Vielleicht sucht manch einer nach einer Geschichte, die weiter ausgeführt wird. Wie zum Beispiel die eines Soldaten, der Mam bittet, den ersten Schrei seines Kindes für ihn aufzuzeichnen.
Es folgt ein Roadmovie auf den Straßen des Irak, auf den Straßen einer zerstörten Welt, die die Kamera in langen Totalen einfängt. In dieser Welt trifft man an der Seite von Mam immer wieder auf Kreisbewegungen. Wenn die Kamera den Zuschauer mit in den Strudel eines 360-Grad-Schwenks zieht, wenn sie immer wieder nach kreisförmigen Anordnungen sucht, so ist dies womöglich der Ausdruck des ewigen Kreislaufs von Zerstörung und Neubeginn, immer begleitet von aus dem Off dringenden Stimmen auf der Suche nach Hoffnung. Diese Hoffnung teilen sie alle; sie verbindet sie über die großen Distanzen der kargen irakischen Landschaft hinweg. Und so wird der aufgenommene Schrei des Kindes zum Schrei eines ganzen Volkes. Ein Schrei nach Freiheit. Verzweifelt zwar, aber auch hoffnungsvoll.
Hoffnungsvoll darf man auch auf den zweiten Film von Alidi warten, denn mit seinem Debüt beweist er, dass er die Kunst verstanden hat, aus vielen einzelnen Strichen ein poetisches Gemälde zu kreieren. Und vielleicht wird er mit etwas Glück der Caspar David Friedrich des irakischen Kinos.
Kritik von Frauke Lahmsen (Hölty-Gymnasium, Wunstorf)
„Sirta la gal ba“ – Gute Miene zu bösem Spiel
Es ist ein ungewöhnlicher Anblick. Der Baum ist knorrig und alt, steht mitten in der Wüste. Seine Äste sind kahl. Dennoch - er trägt eine Last. Sie ist schwer, niederschmetternd. Bei der Last handelt es sich um Radios. Unzählige Radios, die an diesem Baum gehängt wurden. Sie baumeln an Stricken, immer weitere kommen dazu. Voll aufgedreht und doch verloren schreien sie dem Zuschauer entgegen. Der Mann, der an den Baum gefesselt ist, bietet einen ähnlich skurrilen Anblick. Mit seinen kurzgeschorenen Haaren und seiner großen Sonnenbrille mit runden Gläsern scheint er völlig deplatziert. Doch er ist der Einzige, der wirklich versteht. Der versteht, dass es die Freiheit ist, die da im Tode schreiend am Baum hängt. Die Freiheit eines gesamten Volkes, welches unterdrückt und ermordet wird. Es ist die Freiheit der Kurden.
Ein anderer Mann fährt mit seinem verrosteten Jeep durch die rauen Landschaften seiner Heimat. Es ist Mam Baldar. Von Dorf zu Dorf reist er und nimmt mit seinem Radio Botschaften auf. Er transportiert wichtige Waren: Hoffnung, aber auch Trauer, Tod und Verzweiflung. Überall beobachtet er die Auswirkung des Krieges. Orte an denen er vor kurzem noch war, sind bald zerstört, die Einwohner tot und ein Stück seines Willens gebrochen. Hierbei gelingt es dem Regisseur Shahram Alidi, wunderschöne Bilder eines Krieges zu malen: im Irak der 80er Jahre. Die zuweilen surrealistische Inszenierung will so gar nicht zum Thema passen. Der Zuschauer ist distanziert und kann sich nur schwer mit den Figuren identifizieren. Auch die Tonspur ist sehr speziell: Schrille Töne, die dem Publikum durch Mark und Bein gehen, erinnern an wehklagende Schreie. Eine oft viel zu laute Hintergrundmusik lässt den Zuschauer unbehaglich auf seinem Platz hin- und herrutschen. Das Risiko, dass das Publikum abgeschreckt wird und nicht versteht, ist dabei unvermeidbar. Eines schafft der Film jedoch auf jeden Fall: anders zu sein, Aufmerksamkeit zu erregen. Aufmerksamkeit, die für diesen politischen Film nur von Vorteil sein kann.
Das Schreien eines Babys dringt aus den Lautsprechern. Weicher und weicher wird es, bis es in wohliger Erschöpfung endet. Es sind die ersten Laute des Neugeborenen. Der Mann ist gefesselt. Doch nicht mit den Stricken, sondern von diesen Tönen. Ein seliger Ausdruck erscheint auf seinem Gesicht. Er schaut nach oben, ein Lächeln umspielt seine Lippen: Hoffnung.
Kritik von Moritz Kobler (John F. Kennedy Schule, Berlin)
Widerstand auf Tape, Take one
Tiefes Schnarchen, das ist der Beginn der Geräuschkulisse des Films „Whisper with the Wind“ (Sirta la gal ba) von Shahram Alidi. Wenn der Zuschauer sich diesem Laut des Schlafens nicht für die nächsten 77 Minuten anschließt, so steht ihm ein Filmerlebnis der besonderen Art bevor.
Mam Baldar zieht als Bote von Dorf zu Dorf im Hochland des Irak. Er dient den Kurden als Sprachrohr und somit als letztes Kommunikationsmittel in Zeiten von Krieg und Verfolgung. Mit einem alten Kassettenrecorder nimmt er die Nachrichten seines verzweifelten Volkes auf und überträgt sie mit Hilfe eines illegalen Radiosenders. Auf seinen Wegen wird er täglich mit der grausamen Verfolgung der Kurden konfrontiert. Als ein Widerstandskämpfer ihn bittet, den ersten Schrei seines Kindes aufzunehmen, kann Mam Baldar erstmals wieder über Leben berichten und somit neue Hoffnung geben.
Der Ansatz ist gut, das Thema aktuell und brisant und die Kamerabilder sind kreativ und anspruchsvoll, doch wirkt der Protagonist in seinen Emotionen nicht überzeugend. Durch die Verwendung von vielen Symbolen tritt Struktur und Klarheit in den Hintergrund, wodurch Längen entstehen. Drei Metaphern stechen besonders hervor: der Pegasus auf der Motorhaube von Mam Baldars Auto, der ihn mit Hermes dem griechischen Götterboten gleichstellt; die weißen Tauben am Exekutionsort der Widerstandskämpfer, Zeichen von Frieden und Hoffnung; und die Radioapparate, die vom Militär an einem Baum „erhängt“ werden, Stellvertreter für den Mord an den Kurden. Obwohl all das gekonnt in Szene gesetzt wird, erscheint es als zu dick aufgetragen. Die wunderschönen Bilder wirken zu romantisch für das Thema, die Gefühlsausbrüche des Protagonisten nicht authentisch.
Ob man den schrillen Ton des Films nun gut findet oder doch um seine Ohren bangt, so ist auch das ganze Werk Geschmackssache. Die Absicht des Regisseurs, politische Konflikte aufzuzeigen, tritt in den Hintergrund durch die zu idyllischen Bilder des Krisengebiets.
Kritik von Lena Scheiterbauer und Antonia Kölbl (Rudolf-Steiner Schule, Gröbenzell)
Diese Kritiken sind entstanden im Rahmen von La Toute Jeune Critique
Semaine internationale de la Critique de Cannes 2009.
Zur Übersicht der Semaine Internationale de la Critique de Cannes 2009
Kommentare zu „Ganz Junge Kritik in Cannes - Whisper with the Wind“
Es gibt bisher noch keine Kommentare.