Ganz Junge Kritik in Cannes - Lost Persons Area
Die Jagd nach dem Glück

Das Leben ist ein Karussell. Es hört nie auf sich zu drehen. Mal lässt es jemanden einsteigen, mal springt einer ab. In eben so einem Karussell scheinen sich auf Grund der rastlosen, nie zur Ruhe kommenden Kamera die Figuren aus Caroline Strubbes Langfilmdebüt „Lost Persons Area“ zu befinden. Verzweifelt suchen sie alle nach Halt, in einer Welt, die sich kontinuierlich weiterdreht. Sie wünschen sich alle einen festen Platz, jemanden, der sie festhält.
Durch Nahaufnahmen ist der Zuschauer ganz nah an Tessa, der kleinen Tochter, die nach Liebe und Anerkennung sucht; an dem Vater, Marcus, dessen Bartstoppeln er mit den eigenen Fingern zu spüren meint; an der Mutter, Bettina, die nicht weiß, ob sie lieber ein turbulentes Leben führen möchte oder „nur“ Mutter sein will; und wieder an Marcus, der den Traum hat, sein eigenes Gewerbe aufzubauen, was allerdings durch einen Unfall verhindert wird. Und man ist nah an Szabolcs, der für Marcus arbeitet und für Tessa mehr und mehr zum Vater wird. Für alle ist es die Jagd nach dem Glück: Jeder rennt verzweifelt seinen Wünschen hinterher. Doch bei jeder Jagd gibt es Opfer. Hier ist es Tessa, die im Geflecht der Wünsche der Eltern untergeht und unaufhörlich um Liebe bettelt. Sie bastelt kleine Hilferufe aus Abfall, die die Mutter allerdings nur für Müll hält. Dadurch, dass die Figuren untereinander kaum kommunizieren, baut sich eine unerträgliche Spannung auf, die mal von Stille, mal von leiser Musik getragen wird. Diese Spannung durchströmt die Figuren – fast so, als gingen die Hochspannungsleitungen, an denen sie arbeiten, durch sie hindurch.

Man muss sich mit ins Karussell setzen, will man dem Film auf die Schliche kommen. Man muss vollends eintauchen in ein Leben unter Hochspannungsleitungen. Zur Ruhe kommt man dabei freilich nicht. Man wünscht sich wie Tessa, dass das Karussell für einen kurzen Moment einmal anhält.
Kritik von Frauke Lahmsen (Hölty Gymnasium, Wunstorf)
Vergessene Worte

«Lost Persons Area», verlorene Menschen auf gemeinsamen Raum. Caroline Strubbes Film inszeniert eine Vierecksbeziehung, die an einem elementaren Kommunikationsproblem zu Grunde geht. Es gibt das Liebespaar, das nur durch physischen Kontakt kommuniziert. Das Kind, das nach Verständigung und Verständnis sucht und sich in eine Welt des ständigen Ordnens flüchtet. Der Mitarbeiter, der sich verliebt und keinen Ausdruck für seine Gefühle findet.
Jeder der vier Protagonisten ist auf der Suche nach Liebe. Hände werden ausgestreckt, festgehalten, losgelassen. Durch einen Unfall wird sich jeder seiner Mängel bewusst. Das Liebespaar verliert sich und sein Kind. Das Kind verliert sich im Chaos. Der Arbeiter verliert sich zwischen den Fronten. Doch während die Beziehung zwischen den beiden Liebenden zerbricht, entsteht an anderer Stelle eine neue Bindung und das Kind findet in dem Arbeiter eine Bezugsperson.

Der Film ist sehr symbolreich, Probleme werden aufgezeigt und Momente reflektiert. Die Einstellungen sind in extremen Farben gestaltet und der Fokus liegt oft außerhalb des Gewöhnlichen. Mit Schärfen auf besondere Ausschnitte werden die emotionalen Distanzen der Figuren ausgedrückt. Die Einsamkeit und Verlassenheit der Personen wird dem Zuschauer durch Längen und große Stille nahe gebracht. Künstlerischen Anspruch bekommt das Werk durch den Soundtrack, der die melancholische Atmosphäre unterstützt.
„...aber davor haben wir noch Spaß“ ist der Schlüsselsatz, dem ein unbefriedigendes und schwer erklärliches Ende folgt und die Frage nach dem Danach. Das wird in den nächsten zwei Teilen der Triologie erzählt, so die Regisseurin, was den Film als Einzelwerk unvollkommen macht und viele Fragen offen lässt. Die Frage nach der inhaltlichen Botschaft muss sich jeder individuell beantworten.
Kritik von Lena Scheiterbauer und Antonia Kölbl (Rudolf-Steiner Schule, Gröbenzell)

Ein Blick in die Leere
Ein kleines Mädchen steht einsam unter dem endlosen Himmel. Ein großer Mann hebt sie auf, sammelt sie ein, bringt sie nach Hause.
Weites, flaches Land, hochragende Strommasten und zerrissene Wolken – Diese „Lost Persons Area“ vermittelt das Gefühl von Isolation, Monotonie und unkontrollierter Freiheit – Voraussetzung für eine einzigartige Stimmung und eine bizarr einfühlsame Geschichte. Eine zwischen nah und weit kontrastierende Kameraeinstellung unterstreicht das Spiel von Nähe und Distanz zwischen den Figuren.
Die belgische Regisseurin und Drehbuchautorin Caroline Strubbe zeichnet das Bild einer zusammengewürfelten Gruppe von Menschen, eine Parallelgesellschaft, die Herr über dieses Land ist: Es sind die Männer, die diese Strommasten bauen. Sie halten zusammen, sind eine starke Gemeinschaft, die für die meisten von ihnen die Familie ersetzt. Da gibt es Tessa, das kleine Mädchen, das gedankenverloren in der Dämmerung auf ihren Vater wartet. Ihre Mutter, einzige Frau in dieser Gemeinschaft, genießt einerseits ihre Freiheit, sehnt sich jedoch andererseits nach einem geregelten Familienleben. In dieser Gesellschaft werden die Menschen so akzeptiert, wie sie sind: Die beinah autistisch wirkende Tessa, die statt zur Schule zu gehen, Knochen, Steine und Zigarettenstummel sammelt, um sie am Strand zu Mustern anzuordnen; der ungarische Gastarbeiter Szlablocs, ein zurückhaltender Beobachter, der sich bereits bei seiner Ankunft in die Frau seines Chefs verliebt. Die Frage nach Normalität wird hier nicht gestellt – denn was ist schon normal?
Die Harmonie wird durch einen Sturz aus gefährlicher Höhe erschüttert. Nach dem Arbeitsunfall fehlen mit einem Schlag der Chef der Männer und Vater der Familie. Dem Film gelingt es mit Hilfe einer subjektiven Kameraführung, dem Zuschauer fremde Situationen näherzubringen und ihn emotional zu berühren
Ein kleines Mädchen steht unter dem wolkenverhangenen Himmel. Ein gebrochener Mann schafft es nicht sie aufzuheben, sie einzusammeln, lässt sie zurück
Kritik von Nora Heidorn und Moritz Kobler (John F. Kennedy Schule, Berlin)

Verwüstet
Fließendes Wasser. Ein kleines Mädchen sitzt neben dem Waschbecken, der Wasserhahn aufgedreht. Das Mädchen in sich gekehrt. Alleine. Sie lebt in ihrer eigenen Welt, die sie verzweifelt versucht zu ordnen. Vergeblich sucht sie die Zuneigung ihrer Eltern. Auf den ersten Blick scheint es eine glückliche Familie zu sein. Doch der Ort, an dem sie mehr haust als lebt, ist wüst und verlassen, weit und breit ragen nur Strommasten in den Himmel. Sie leben in einem Wohnwagen. Der Vater ist Ingenieur und arbeitet an den Strommasten. Doch dann ein Unfall, ihm wird ein Bein amputiert. Die Geschichte wendet sich. Der Vater verzweifelt, nur noch auf sich konzentriert. Der Tochter nicht mehr die Liebe entgegenbringend, die er ihr geben möchte. Im Laufe des Films leben sich die Protagonisten auseinander. Sie verlieren sich gegenseitig. Probleme finden keine wirkliche Lösung. Sie werden verdrängt und durch körperliche Nähe überspielt. Die Kommunikationslosigkeit bestimmt eine leere Welt, in der nur Einsamkeit herrscht. Einsam, wie die wüste Landschaft, die sie umgibt.
Die Beziehung der Eltern stützt sich auf eine enge Bindung und Leidenschaft, wo kein Platz mehr für das kleine Mädchen zu sein scheint. Eine unruhige Kamera unterstreicht das Chaotische innerhalb der Familie. Das Mädchen sammelt Gegenstände, die ihre Gefühle ausdrücken. Sie sammelt alles. Steine, Vogelfedern, manchmal geordnet, manchmal zerstreut. Dadurch entstehen kunstvolle Bilder, die wie Gemälde wirken.

Ein auffälliges Motiv ist das Wasser. Die kleine Tessa flüchtet. Dreht den Wasserhahn auf. Lässt das Wasser laufen. Einfach so. Wasser als beruhigendes Element, Metapher für den Strom des Lebens, der nicht abreißt, auch dann nicht, wenn das Leben aus den Fugen gerät, vielleicht endet. Handlungen, die Emotionen auslösen, die Eindrücke hinterlassen. Die aber auch unzusammenhängend wirken. Immer mit offenem Ende. Die Regisseurin Caroline Strubbe lässt den Zuschauer in einer Ungewissheit zurück. Auch er, wie die Personen des Dramas, alleine gelassen an verlorenem Ort: „Lost persons area“.
Kritiken von Esra Kacan und Vitalia Yapparova (Ottheinrich Gymnasium, Wiesloch)
Diese Kritiken sind entstanden im Rahmen von La Toute Jeune Critique
Semaine internationale de la Critique de Cannes 2009.
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