Ganz Junge Kritik in Cannes - Huacho
Orientierungslos

Wie fühlt man sich, wenn man die Orientierung in der Welt verliert? Vielleicht ist man neugierig, in jedem Fall fühlt man sich eingeengt und verspürt Angst, Angst vor dem Neuen.
Eingeengt fühlt man sich auch, wenn man die von Alejandro Fernández Almendras geschaffene Welt betritt. Meist hat man nicht gleich den Überblick über die Situation, wird nur durch die Rückansicht der Figuren durch das Geschehen geführt, die selbst nicht genau zu wissen scheinen, wo sie (mit sich) hinwollen: Naheinstellungen verbieten größtenteils den Blick in die Umgebung.
In Almendras erstem Langfilm begleiten wir auf diese Weise drei Generationen einer Familie aus dem rückständig wirkenden Südchile einen Tag auf ihrem Weg in die globalisierte Welt. Die Großmutter, die versucht selbstgemachten Käse zu verkaufen, die Tochter, die mit ihrem farbenfrohen Kleid ihren Traum von ein bisschen Luxus zurückgibt, damit sie den Strom bezahlen kann, der Enkel, der sich in die bunte Welt der Videospiele flüchtet, und schließlich der Großvater, der mutterseelenallein auf einem Feld schuftet.
Von Generation zu Generation scheint der Wert von Traditionen zu schwinden – und die Verführungskraft des Neuen zu wachsen: auf der einen Seite der Großvater, der noch zufrieden ist in einer unveränderlichen Welt und auf der anderen Seite sein Enkel, der den langatmigen Erzählungen des Großvaters nicht mehr folgen mag und stattdessen mit seiner Mutter über Geld verhandelt: Geld für einen Schritt in die schrille Welt des Hightechs.
Almendras' Geschichte ist die Weiterentwicklung seines Kurzfilms „Was der Regen bringt“ (2007). Dort beschreibt der gebürtige Chilene bereits die traditionelle Welt der Großeltern. Nun vollendet er seine Idee, indem er sie um die Geschichten der Mutter und des Enkels ergänzt. Jede Generation muss sich neu mit der Frage auseinandersetzen, inwieweit sie Traditionen weiterführt oder nicht. Wobei die Frage auch oft ist, ob man den Mut aufbringt, sich in die unbekannte, gefährlich wirkende Welt zu stürzen; auch wenn man anfangs orientierungslos ist.
Kritik von Frauke Lahmsen, (Hölty-Gymnasium, Wunstorf)
Kontrast durch Veränderung

“Heute oder Morgen- irgendwann werden wir alle glücklich”. Alejandro Fernandéz Almendras Film ist eine Suche nach dem persönlichen Glück im Wandel der Zeit. Ein mit sanften Farben gemaltes Familienporträt, das dem schnellen Schritt der Veränderung nicht Stand hält.
Die Kamera spiegelt die Einfachheit der Lebensumstände auf dem chilenischen Land wieder und zeichnet zugleich ein wahres Bild über strahlende Schönheit und die schweren Lasten des Lebens. Zu Beginn des Filmes werden die Charaktäre in der Bewegung von Vorne gezeigt, doch im Verlauf springt die Kamera über die Achse und sitzt dem sich Bewegenden im Nacken. Es ist die Veränderung mit der alle Mitglieder der Familie konfrontiert werden und die Zeit, mit der sie nie auf Augenhöhe sind. Der Großvater, der merkt, dass er alt wird und sich mit seinen Geschichten und einem leisen Lächeln jung hält. Die Großmutter, die versucht ihren Käse weiterhin zu verkaufen, obwohl sie gegen die Globalisierung und die steigenden Preise ankämpfen muss. Die Mutter, die sich abarbeitet, um die Familie über Wasser zu halten und ihrem Sohn wenigstens ein Stück Freiheit zu ermöglichen, muss immer wieder mit dem Konsumverzicht zurechtkommen. Der Sohn versucht Anschluss an seine Schulkameraden zu finden und somit unbewusst die gesellschaftliche Mauer zu durchbrechen, doch er kann den Ansprüchen der neuen Generation nicht gerecht werden. Die Einfachheit trennt ihn von seinen Mitschülern, die Computerspiele erfordern seinen letzten Pesos. Die Stimmung des Films ist duch die Lichtdramaturgie sehr eindrucksvoll, doch das Fehlen von Dialogen und Musik verlangsamt das Geschehen.
« Huacho » bedeutet ein übrig gebliebenes Stück, das nicht mehr vollkommen ist, wie z.B. « nur ein Schuh ». Auch der Familie fehlt der “zweite Schuh”, um mit der Zeit Schritt halten zu können. Dem Regisseur ist es gelungen, mit einer sensiblen Erzählkultur ein realistisches Bild zu schaffen, wobei die Handlung durch die Widerspieglung der Monotonie und Langsamkeit einen hohen Anspruch an die Geduld des Zuschauers stellt.
Kritik von Lena Scheiterbauer und Antonia Kölbl (Rudolf-Steiner Schule, Gröbenzell)
Zeitenwende oder Wandel der Zeit?

Es herrscht eine bedrückende Stille. Eine Familie, in der Landwirtschaft verwurzelt, kämpft um ihre Existenz. Die Lebensumstände erlauben ihnen nicht, sich an die Globalisierung anzupassen. Ein Weltenzusammenprall definiert das Geschehen. Das traditionelle Leben der Familie, das sich von Generation zu Generation unverändert fortpflanzt, steht im Gegensatz zur beschleunigten Welt der Innovationen. In ihrer finanziellen Not versuchen sie ihr Möglichstes, um den Wandel der Zeiten zu überstehen, jedoch überholt von der unaufhaltbaren Dynamik der Veränderung – während sich ihr eigener Stillstand festigt. Ihre Existenz wird immer wieder unbarmherzig auf materielle Nöte aber auch Sehnsüchte reduziert.
Ihre ärmlichen, fest tradierten Lebensverhältnisse bleiben nicht länger abgeschottet: Technologie und Fortschritt brechen in die Familie ein. Der kleine Enkel Manuel, der zuhause kaum über Elektrizität verfügt, wünscht sich nichts sehnlicher, als mit einer Spielkonsole eines Freundes zu spielen – und verfällt den Verlockungen einer Spielhölle. Der einzige Moment im ansonsten fast nicht mit Musik arbeitenden Film, der musikalisch untermalt ist – ein Einbruch von Lärm in eine akustische Idylle.
Die Zeit, die sehr langsam, fast monoton verläuft, spielt in diesem Film eine besondere Rolle. Alles ist untermalt durch die langsamen Schnittfolgen der Kamera, die ihre Protagonisten liebevoll portraitiert –, die Close-ups liebt und jede Furche in den beeindruckenden Gesichtern der alten Chilenen festhält. Ackerfurche – eine der vielen Übersetzungen für HUACHO. Liebevoll ist auch das Licht – oft Gegenlichtaufnahmen, die die Konturen der Menschen wie Gemälde inszenieren. Doch auch das Licht ist dem Wechselspiel von alter und neuer Welt unterworfen. Es kann hart sein und die Menschen unbarmherzig zur Schau stellen. Der Film hat dokumentarische Züge. Die Authentizität des Filmes wird durch die Protagonisten, die in ihrem wahren Leben wirklich Landwirte sind, unterstrichen.
„Um das Leben verändern zu können, braucht man eine Begleitung, Heimat, soziale Bindung – alleine schafft man es nicht“, nach Almendras. Dem Regisseur Alejandro Fernandez Almendras ist es wahrhaftig gelungen, die Problematik dieser Menschen authentisch und lebensecht auf der Leinwand darzustellen, während paradoxerweise eine andauernde Distanz zum Publikum eingehalten wird.
Kritiken von Esra Kacan und Merve Gökalp (Ottheinrich Gymnasium, Wiesloch)
„Huacho“ – ein Spiel von Licht und Schatten

„Eines Tages werden werden wir alle glücklich sein“. Ein Satz, den Manuel kaum hört. Er sitzt in seiner Schule und hält sehnsüchtig nach seinen Klassenkameraden Ausschau, die über ihren Erfolg in einem Videospiel lachen - an einem anderen Tisch, eine Distanz, die Manuel, einfacher Bauernsohn, nicht überbrücken kann. Er ist einer der vier Protagonisten dieses Spielfilms mit dokumentarischem Anspruch.
Zusammen mit seiner Mutter und seinen Großeltern lebt er im Süden Chiles am Rande des Existenzminimums – der Vater fehlt, Manuel ist ein „Huacho“, ein vaterloser Junge. Eines Morgens am Frühstückstisch in der ärmlich eingerichteten Hütte erlischt plötzlich das Licht - eine Familie sitzt im Dunkeln. Von dieser Situation ausgehend beschreibt der Regisseur Alejandro Fernández Almendras einen Tag im Leben einer Bauernfamilie aus vier verschiedenen Sichtweisen. Durch eine subjektive Kameraführung gelingt es dem Zuschauer, sich in die Charaktere hereinzuversetzen, und ihm wird klar, dass sich die Probleme und Bedürfnisse der Protagonisten trotz ihres Altersunterschiedes und ihres unterschiedlichen Umfeldes kaum unterscheiden. Alle suchen sie nach Glück – nach ihrem kleinen Moment, in dem sie sich fühlen, als seien sie der Mittelpunkt. Sei es durch ein besonders schönes Kleid, einen guten Wein mit Freunden, oder eben das Gefühl, dazuzugehören, mitspielen zu dürfen. In der Erinnerung haften bleibt das Bild einer Mutter, die ihren Sohn in einem überfüllten Bus im Arm hält, sich an ihn klammert, um mit der eigenen Verzweiflung fertig zu werden, die sie zu überschwemmen droht. Trotz eines eher langsamen, vagen Anfangs kann der Film mit seinen Bildern und vor allem mit einer kontrastreichen Benutzung von Licht und Schatten überzeugen.
Eine Familie isst zu Abend. Das Licht geht wieder an, der Kreis ist geschlossen. Der Tag – ein Tag – ist vorüber. Die Frage stellt sich: Wie viele mehr werden diese Personen, die hart im Nehmen sind, noch aushalten müssen, bis sich Rücksichtslosigkeit und Diskriminierung erschöpfen und sich ihr zutiefst menschliches Streben nach Glück erfüllt?
Kritik von Moritz Kobler (John F. Kennedy Schule, Berlin)
Huacho; Chile, Frankreich, Deutschland 2009; 89 min; Regie: Alejandro Fernández; Drehbuch: Alejandro Fernández; Kamera: Inti Briones; Sound: Pablo Pinochet; Schnitt: Sébastien de Sainte Croix décors; Darsteller: Clemira Aguayo - Alejandra Yáñez - Cornelio Villagrán Manuel Hernández
Diese Kritiken sind entstanden im Rahmen von La Toute Jeune Critique
Semaine internationale de la Critique de Cannes 2009.
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Kommentare zu „Ganz Junge Kritik in Cannes - Huacho“
Gonzalo Oroz
Huacho bedeutet in Chile "uneheliches Kind" und für einen Chilenen ist der Titel eindeutig. Die anderen Deutungen sich nicht komplett falsch aber fast.