Ganz Junge Kritik in Cannes - Adieu Gary
Ankunft – Herkunft – Zukunft?

Frankreich: heute. Eine Stadt mitten im Nirgendwo – verlassen, heruntergekommen. Ein Mann sitzt in einer alten Fabrikhalle. Er arbeitet an einer Maschine, an der er sein Leben lang gearbeitet hat. Doch der Betrieb ist längst still gelegt. Dennoch macht er sich an ihr zu schaffen. Dröhnend springt sie wieder an, das Stampfen ist bis in den trostlosen Ort zu hören, erstaunt und wehmütig nehmen die Bewohner den stählernen Herzschlag wahr. Über den Rhythmus der Schläge legen sich arabischen Klänge – es ist die symbolische Verschmelzung der arabischen mit der westlichen Kultur.
Der verlorene Sohn Samir kehrt aus dem Gefängnis zurück. Er will mit dem dunklen Tunnel seiner Geschichte brechen, Drogen, Alkohol und Kriminalität sollen endgültig der Vergangenheit angehören. Der Weg aus diesem Tunnel – vorgezeichnet wie auf Schienen – eine Wiedergeburt, ein Neuanfang im Schoße seiner Familie. Samir hat Träume, Wünsche von einem besseren Leben, die er verwirklichen will. Er füllt Regale bei einer Supermarktkette, doch entflieht den demütigenden Arbeitsbedingungen bald wieder – ein letzter Blick aus dem Fenster des Lagers, in dem er sich wie hinter Gittern fühlt. Samir flieht - wie die anderen Bewohner des trostlosen Industrieviertels in eine ungewisse Zukunft.
Auch José empfindet ähnlich wie Samir. Sein Vater tot, die Mutter beschäftigt, versinkt José vor der Glotze, reitet durch die Prärien der berühmten Hollywood-Western. Gary Cooper. Immer wieder Gary Cooper. José glaubt er sei sein Vater. Und ständig der Wechsel zwischen Fiktion und Realität, Ebenen, die miteinander verschmelzen. Die Szenen aus dem berühmten Western „High Noon“ sind eine Metapher für die Auswanderer aus dem Maghreb nach Frankreich. Zurückkehren oder bleiben? Oder den Absprung schaffen.
Überzeugt davon sein, woanders ein neues, besseres Leben führen zu können. Bleiben – ohne genau zu wissen warum - und sich mit der eigenen Herkunft abfinden. Zurückkehren – zu den Wurzeln, doch ohne den Weg in eine Zukunft.
Kritik von Vitalia Yapparova und Julia Balla (Ottheinrich-Gymnasium, Wiesloch)
Viel Licht – doch kaum Spektakel
Normalerweise würden Sie an dieser Stelle die ausgeschmückte und möglichst mitreißende Beschreibung einer prägenden Szene finden. Vielleicht würde es auch ein tiefgründiges Zitat tun. Doch mit keinem von beiden kann „Adieu Gary“ dienen. Zwar ist die Geschichte eines kleinen französischen Dorfes und der Probleme seiner Bewohner recht unterhaltsam, sie hinterlässt jedoch keinen bleibenden Eindruck beim Zuschauer.

Man sieht das Ende eines Tunnels. Hell leuchtet es dem Zuschauer entgegen. Es wird größer, kommt näher. Die Kamera folgt der Fahrt eines Autos – es fährt auf Schienen, dem hellen Schein entgegen. Der französische Regisseur Nassim Amaouche beginnt seinen Film mit diesem doch sehr ausgeschöpften Symbol der Hoffnung auf einen Ausweg, auf Entkommen. Der ganze Film arbeitet mit ähnlichen Clichés: Da gibt es den Fall von Francis, einem arabischen Immigranten, der seinen Arbeitsplatz in einer Fabrik verloren hat. José, ein dicker Junge aus der Nachbarschaft, sitzt tagein tagaus am Straßenrand und wartet verzweifelt auf die Rückkehr seines längst verschollenen Vaters. Ähnlich stereotyp wird die Liebesgeschichte zwischen Francis' Sohn Samir und der Dorfschönheit Nejma beschrieben. Diese emanzipierte junge Araberin muss natürlich, wie sollte es anders sein, nach Paris umziehen – der lächerliche Satz ihres drogenverkaufenden kleinwüchsigen Bruders à la „Du musst sie gehen lassen“ verleitet den Zuschauer dazu, sich verzweifelt an die Stirn zu fassen.
Einer der Lichtblicke, die den Besucher aus dem Dunkel führen, ist die traditionelle arabische Lauten-Musik, die eindrucksvoll Szenen verbindet und die Handlung belebt. Außerdem versprühen manche Szenen Lichtfunken, witzige Handlungselemente, die das Publikum zum Schmunzeln bringen, jedoch schnell wieder erlöschen. Die ungewöhnliche Idee des Regisseurs, das Problem einer zerfallenden Gemeinschaft im Stil eines Westerns zu verfilmen, ist im Grunde gut, die Umsetzung gelingt jedoch nur schlecht. „Adieu Gary“ – allzuschwer fällt uns der Abschied jedenfalls nicht.
Kritik von Julia Parizo und Moritz Kobler (John F. Kennedy Schule, Berlin)
Schienen für Helden

Gary Coopers Sohn an der verstaubten Hauptstra?e der Stadt, Gleise als Stra?en und eine Maus, die das Käseregal einräumt. Ein Junge in der Illusion eines Filmes verloren, ein Mercedes auf Schienen und ein Verkäufer in den Käseaktionswochen. Gerade dieser wundervolle und skurrile Humor ist es, der den Film «Adieu Gary» von Nassim Amaouche reizvoll macht.
Die Infrastruktur eines Dorfes, die an einer einzigen Fabrik hängt, bricht zusammen. Das ganze Dorf ist plötzlich perspektivenlos und die Entwicklung bleibt stehen. Alle warten auf etwas Bestimmtes: José auf die Rückkehr seines Vaters, den er für einen Westernhelden hält, der kleine Mann im Rollstuhl auf die Drogen, mit denen er sein Geld verdient und der ältere Mann auf den Wiederaufbau seines Unternehmens. Jeder hat ein klares Ziel vor Augen, kann es aber nicht verwirklichen, da er noch an alten Idealen festhält. Erst als jeder die Hilfe des anderen annimmt, kommt das Leben wieder in Fluss.
Ein langweiliges Geschehen ist hier durch viel Tempo und dezenten Humor kurzweilig gemacht. Eine gro?e musikalische Leistung bereichert den Film mit arabischer Gitarre zu Bildern im Westernstil, was filmische Realität und die Illusionen verbindet. Da das Ensemble durch sehr verschiedene doch hochklassige Schauspieler zusammengesetzt ist, wird ein gekonntes Zusammenspiel zwischen den Figuren ermöglicht.
Der Regisseur schafft es Ironie und ernste Inhalte schön zu verbinden, was einen stimmigen Kontrast bildet.
Kritik von Lena Scheiterbauer und Andreas Eibelshäuser (Rudolf-Steiner Schule Gröbenzell)
Probier’s mal mit Zusammenhalt
Eine Plastiktüte weht über die staubigen Straßen der Geisterstadt. Die Sonne brennt heiß vom Himmel und die grauen Betonmauern beginnen zu bröckeln. Die Fensterläden sind geschlossen. Zwei Gestalten sitzen am Straßenrand, als würden sie auf etwas warten, das sie aus ihrem trostlosen Alltag entführen kann. Was sollte sie hier halten, in dieser leblosen und tristen Atmosphäre?
Nassim Amaouche bevölkert die französische Westernkulisse bald mit liebenswürdig-schrägen, mal etwas kriminellen, mal etwas ruppigen, vor allem jedoch herzensguten Menschen, die man so richtig lieb haben muss. Die Erinnerungen sind es, die in den alten Gemäuern der Häuser hängen. Die Fabrik, die ihnen allen Arbeit und Lebensinhalt gegeben hatte, ist geschlossen. In Einzelteile zerlegt, entgleitet sie ihnen in einem polternden Güterzug. Die fetten Jahre sind vorbei. Doch das ist nicht einfach zu begreifen. So arbeitet Francis, gespielt von Jean-Pierre Bacri, trotzig an seiner alten Maschine weiter. Loslassen ist nun mal nicht leicht: Francis‘ Sohn hat immer noch nicht die Meeresfrüchteplatte bestellt, die er direkt nach seiner Gefängnisentlassung essen wollte. José wartet seit Jahren auf seinen Helden, Gary Cooper, der mehr als nur ein Vaterersatz ist. Aber gemeinsam sind sie stark. Und so ist es das liebevolle, humorvolle Miteinander, das sie nach und nach aus ihrer Lethargie befreit. Sie halten zusammen und helfen sich, wo sie können. Und so schaffen sie es letzten Endes durch den dunklen Tunnel zu fahren und loszulassen, ohne zu wissen, was sie erwartet. Auch José kann schließlich Adieu zu Gary Cooper sagen, auf den er so lange am Straßenrand gewartet hat.
Man kann dem Film vorwerfen, die perfekte Harmonie sei unrealistisch und übertrieben. Ähnlich wie die Regielegende Jean Renoir bedient Amaouche sich der Mittel des poetischen Realismus, der diese traurige Umgebung beinah schön wirken lässt. Der Spagat zwischen dem kritischen Thema und der Lebensfreude gelingt Amaouche mit Humor und Gemütlichkeit, die jede Person auf seine Weise zu verkörpern weiß. So scheint der Film fast schon ein Appell zu sein: zu mehr Zusammenhalt und Gelassenheit.
Kritik von Claudia Kück und Jenny Dreier (Hölty Gymnasium Wunstorf)
Diese Kritiken sind entstanden im Rahmen von La Toute Jeune Critique
Semaine internationale de la Critique de Cannes 2009.
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