Dreht die Musik auf! – Cannes 2025

Die Filme des diesjährigen Wettbewerbs waren mal laut, mal nervig, mal klassisch, oft alles zugleich – und nur selten kalkuliert oder vorhersehbar. In Erinnerung bleiben Momente der emotionalen Dringlichkeit und der hemmungslosen Mobilisierung filmischer Ausdrucksmittel.

Alles ist wunderbar, bis auf die Ratten. Die erste, ziemlich lange Einstellung von Lynne Ramsays Die My Love ist eine statische, sie nimmt einen renovierungsbedürftigen Innenraum in den Blick: Es ist das Haus, in das Grace (Jennifer Lawrence) und Jackson (Robert Pattinson) einziehen werden, das Haus, in dem einst Jacksons Onkel bis zu seinem Tod gewohnt hat. „Wie ist er eigentlich gestorben?“, fragt Grace, aber Jackson weiß es nicht, was selten ein gutes Zeichen ist, wenn man ins Haus eines Toten zieht. Das Haus wird besichtigt, wir beobachten Grace und Jackson, die immer mal wieder aus der Einstellung verschwinden, Jackson irgendwann in Richtung Keller, wir hören ihn kurz fluchen: „We have a small rat problem, I guess“, auch kein gutes Zeichen, aber das ist schnell vergessen, es ist ja eh noch einiges zu machen.

Auf einmal dröhnende Musik, Gitarren, auf einmal ein dunkler Wald in Flammen. Der Film rast nach vorne: Jackson und Grace, wie sie wild auf dem kalten Parkett vögeln, in eingerichteter Küche tanzen, Grace im Schwangerschaftsjeanskleid, und irgendwann ist dann ein kleiner Bub auf der Veranda, aber Grace liegt nackt im Gras und Jackson trinkt Bier. Ramsay lässt alles raus, lässt vor allem Jennifer Lawrence alles rauslassen, sprichwörtlich durchdrehen, der Film prescht vorwärts, hält niemals inne, überfordert sein Publikum, wühlt es auf.

Laute Filme

Damit steht Die My Love für eine Reihe von dezidiert lauten Filmen im diesjährigen Wettbewerb von Cannes. In Mascha Schilinskis In die Sonne schauen gibt es ein dröhnendes Crescendo, das sich immer wieder des Films bemächtigt, wenn sich die Zeitebenen mal wieder wie tektonische Platten ineinander schieben. Auch in Alpha fährt Julia Ducournau alles auf und alles hoch, verlassene Krankenhausflure, gefährliche Spritzen, irgendwann eine Alptraumsequenz, in der einem Mädchen die Zimmerdecke entgegenkommt, als wäre sie in einer Metallpresse. Und schließlich wummern die Bässe nirgends so laut wie in Oliver Laxes Sirât, in dem eine Gruppe von Ravern durch die nordafrikanische Wüste brettert und am liebsten ganz in der riesigen Soundanlage verschwinden würde.

Zur ohnehin schon immer etwas hektischen Atmosphäre rund um den Festivalpalast von Cannes gesellte sich also schon in den ersten Tagen des Festivals eine durch die Filme induzierte Nervosität. Beschweren wollte ich mich nie. So unterschiedlich diese Filme sind, so unterschiedlich gut sie ankamen: Sie sind wenigstens kein kalkuliertes Festivalkino, keine Variationen schon hundertmal gesehener Filme. Zugleich durchzieht sie ein Bewusstsein für Filmgeschichte, das nicht als bloßes Namedropping daherkommt, sondern Resonanzräume öffnet. Die My Love erinnert mit dem empathischen Blick auf eine Frau in der domestic hell strukturell an Cassavetes’ Eine Frau unter Einfluss, auch wenn sie an die Stelle der beobachtenden Handkamera eine unmittelbare Übersetzung von Graces zerrüttetem Geisteszustand in die filmische Form setzt. Schilinski beschwört in ihrem Geisterfilm auch die Geister des Transzendenz-Kinos: eine der Selbstmordfantasien, von denen die jungen Mädchen während verschiedener Epochen heimgesucht werden, zitiert das berühmte Ende von Bressons Mouchette. Und Laxe lässt seinen Techno-Trip durch die Wüste erst als Mad-Max-Variante erscheinen, um dann in eine Lohn der Angst/The Sorcerer-Variante abzudrehen, in der das Paradies und die Hölle zwei Seiten derselben Medaille sind.

Alpha ruft hingegen weniger eine bestimmte filmische Tradition als ein gesellschaftliches Klima auf – den homophoben Angstdiskurs um Spritzen, Sex und Tod der 1980er-Jahre – und filtert diesen durch die Perspektive einer Heranwachsenden. Der Film, in dem ein namenloses Virus umgeht, das aber klar auf AIDS referiert, ist sehr viel persönlicher als der damalige Überraschungs-Palmen-Gewinner Titane, deshalb auch weit weniger dem Genre zugewandt und war für einige Kritiker*innen eine Enttäuschung. Aber wie bei Die My Love habe ich bei aller Totalmobilisierung filmischer Mittel auch in Alpha eine persönliche Dringlichkeit und Energie gespürt, die mich bewegt hat. Diese beiden Filme mögen auf die Nerven gehen können oder manchmal prätentiös erscheinen, aber wenn in Ramsays Film die Regisseurin selbst am Ende auf der Tonspur eine herzzerreißende Version von „Love Will Tear Us Apart“ singt oder wenn in Alpha Onkel und Nichte eines Nachts zu den Klängen von Nick Caves „The Mercy Seat“ und seinem ikonischen „And I’m Not Afraid to Die“-Ruf in Richtung Nachtleben ausbüchsen und dem Klima des Todes eine Feier des Lebens entgegensetzen, dann finden diese Filme ganz zu sich, spitzen affektiv zu, was in ihnen substanziell angelegt ist.

Stabile Gerüste

Vielleicht ist die Stärke dieses Cannes-Wettbewerbs auch daran zu bemessen, dass selbst die Beiträge, die konventionellere Wege gehen, keinesfalls enttäuscht haben. Dominik Molls Case 137 mag ein visuell etwas biederes und nicht gerade spannungsreiches Procedural sein, seine Hauptdarstellerin Léa Drucker – sie spielt eine Polizistin, die nach den Gelbwesten-Protesten in Paris Vorfälle von Polizeigewalt in den eigenen Reihen untersuchen soll – sorgte aber dafür, dass ich ständig am Ball geblieben bin, und das Ausbleiben echter Suspense hat hier eben auch damit zu tun, dass diese Art der Untersuchung in den seltensten Fällen zu einer Auflösung führt.

Als etwas brav erschien vielen auch Die jüngste Tochter, Hafsia Herzis Verfilmung von Fatima Daas’ gleichnamigem Roman über eine junge Muslimin, die ihr lesbisches Begehren entdeckt – gerade auch im Vergleich zur Vorlage, die in einem ungleich eigenwilligeren, poetischeren Stil erzählt ist. Doch verpflichtet eine poetische Vorlage ja nicht zu einer entsprechenden filmischen Umsetzung, Herzi schreibt ihre Protagonistin vielmehr selbstbewusst in die Geschichte des generischen Coming-Out-Films ein, der in der Vergangenheit häufig genug spezifische Geschichten als universelle verkauft hat. Der große Bogen des Films erzählt über ein Jahr hinweg bekannte Episoden filmischen Coming-Outs, von homophoben Schulhof-Sprüchen über erste Online-Dates zur ersten großen Liebe und dem ersten großen Liebeskummer und schließlich zu einem selbstbewussten Umgang mit der eigenen Sexualität. Dazwischen aber gibt es einen so herzlichen wie trotteligen dauergrinsenden Arzt, der Fatimas Asthma behandelt, eine Beschreibung lesbischer Sexpraktiken durch eine schon etwas erfahrenere Frau, und einen jungen Boyfriend, der seinen auch kulturell erwarteten Heiratsantrag eher pflichtschuldig runterrattert. Überhaupt tritt die muslimische Hetero-Welt hier nicht als übermächtiges Reich des Zwangs auf, aus dem man sich befreien muss, sondern als spezifischer Kontext, der den Weg der Protagonistin zum sexuellen Selbstbewusstsein zwar beeinflusst, aber nicht determiniert. So generisch das Gerüst sein mag, so spezifisch und kontingent sind die Elemente, die auf ihm herumturnen.

Auch Oliver Hermanus’ The History of Sound ist auf den ersten Blick nichts Neues, eine runtergedimmte Liebesgeschichte zwischen zwei Männern in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, gefasst in Brauntöne. Doch tut dieser Film auch nicht, als wäre er mehr als die filmische Version einer jener Folk-Balladen, die diese beiden Männer im Neuengland der 1910er Jahre auf Edison-Wachszylinder bannen – und das ist irgendwie sehr angenehm, gerade als Gegengift zum Hype, den die Ankündigung eines queeren Films mit den gerade angesagten Hauptdarstellern Josh O’Connor und Paul Mescal verursacht hat. Dieses Cannes war wohl gerade deshalb gut, weil sowohl die eigenwilligen, lauten, subjektiven Filme als auch die konventioneller gehaltenen, sich in bestehende filmische Traditionen einschreibenden Beiträge Spaß gemacht haben (und vielleicht auch, weil ich potenzielle Nervlinge wie Wes Anderson, Ari Aster und Joachim Trier direkt umschifft habe).

Düstere Zeiten

Die beiden Filme, die mir nach ein paar Tagen Abstand noch am stärksten in Erinnerung sind, sprengen jedoch diese Einteilung in Lautheit und Konvention. Kleber Mendonça Filhos The Secret Agent ist von Anfang an ein großer Spaß, dem man die zweieinhalb Stunden Laufzeit nie anmerkt. Ein beeindruckendes Figurenarsenal fährt Mendonça Filho in seinem Thriller auf, und so richtig fand ich mich nicht zurecht in den vielen Andeutungen einer Vorgeschichte und den Twists der Handlung. Aber das ist genau der Punkt: So wie für die beiden Studentinnen, die in der Gegenwart versuchen, die Geschichte der brasilianischen Militärdiktatur anhand von Tonbandaufnahmen zu rekonstruieren, sind die Auslassungen und verlorenen Spuren essentieller Teil des Films. The Secret Agent performt durch knallige Farben in breiten Panavision-Bildern und durch scheinbar eindeutige Dialoge eine erzählerische Autorität, die er im Laufe des Films fast unmerklich unterwandert.

Und dann entlässt mich das Festival mit einem so wunderbaren kleinen Film wie The Mastermind zurück in den Alltag. Zu einem angemessen penetranten Jazz-Score plant der etwas tumbe Mooney (Josh O’Connor, hier deutlich agiler als in The History of Sound) einen Kunstdiebstahl, den Reichardt großartig lakonisch in Szene setzt, um dann umso detaillierter seine Konsequenzen zu beobachten: eine Flucht, die eigentlich von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Der Film spielt 1970, Vietnam-Proteste sind überall, wie einst Chaplin in Moderne Zeiten hat Mooney am Zeitgeschehen wenig Interesse und wird dennoch in eine Demo gezogen. In einem völlig anderen Modus als bei Oliver Laxe, aber ähnlich klug in genuin filmische Konfigurationen sublimiert, findet sich hier die Erkenntnis, dass man in düsteren Zeiten zu eigenen Haltungen finden muss, dass auch Kunst und Rave längst verminte Gebiete sind.

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