Das Monströse im Harmlosen: Fotografien von Diane Arbus

Die Ausstellung „Diane Arbus: Konstellationen“ im Berliner Gropius Bau versammelt 454 Werke der berühmten Künstlerin. Ohne sichtbare Ordnung gehängt, öffnen die Bilder einen Kosmos, in dem menschliche Nähe stets mit unaussprechbarem Unbehagen einhergeht.

© Gropius Bau, Foto: Rosa Merk. Alle Kunstwerke © The Estate of Diane Arbus, Collection Maja Hoffmann/LUMA Foundation

Das gibt es gar nicht so oft: Ausstellungen, in denen man wirklich jedes einzelne Bild anschauen sollte, und nicht bloß im Vorbeigehen. „Diane Arbus: Konstellationen“ im Berliner Gropius Bau ist so eine, und das, obwohl die Schau keineswegs mit Exponaten geizt. Ganze 454 sind es, recht generös (nur manche leider: zu hoch) gehängt in Räumen, die sich großzügig und licht anfühlen – allerdings nur, bis man sich Arbus’ Fotografien zuwendet.

Fast alle Bilder zeigen Menschen. Die wenigen ohne zentrale Figur oder Figurengruppe irritieren einerseits; andererseits sind sie eine Wohltat, kurze Ruhepausen. Denn die Menschen, die Arbus fotografiert, überfordern, überlasten, umzingeln die Betrachter. Die Menschen auf den Bildern sind too much, allesamt haben sie etwas Exzessives, Überschüssiges an sich. Jeder für sich und erst recht, wenn sie in Gruppen auftreten. Die einzelnen Überschüsse addieren sich nicht bloß, sie potenzieren sich.

Weder mit sich noch mit der Welt im Reinen

Diane Arbus, A child crying, N.J. 1967  © The Estate of Diane Arbus, Collection Maja Hoffmann/LUMA Foundation

Die Menschen, die Arbus fotografiert: das sind, darüber wurde schon viel geschrieben, schlichtweg alle. Junge und alte, schwarze und weiße und braune, reiche und arme, männliche und weibliche und solche jenseits dieser Unterscheidung, krumme und gerade, konventionell schöne, unkonventionell schöne, konventionell hässliche, unkonventionell hässliche. Aber halt. Stimmt das? Mir scheint, dass gleichzeitig alle unter eine einzige der genannten Kategorien fallen, nämlich unter die letzte: Alle Menschen, die Arbus fotografiert, sind unkonventionell hässlich. Auch die schönen, vielleicht sogar gerade die.

Obwohl die Bilder mit Einverständnis, in Kooperation mit den Dargestellten aufgenommen wurden, zeigen sie nie Menschen, die in sich ruhen, mit der Welt im Reinen oder auch nur mit sich selbst identisch sind. Etwas passt immer nicht. Manchmal ist es nur ein komisch durchgeknicktes Fußgelenk oder ein verkrallter Finger. Eine bizarre Brillenverzierung. Ein etwas zu entschlossen umgriffener Baseballschläger. Ein zu keck abstehender Stummelpenis. Auf anderen Bildern wächst sich das Monströse, das noch im Harmlosesten schlummert, zu greller Genremalerei aus: ein buckliger Riese, der in einem zu niedrigen Raum auf ein verängstigtes älteres Paar herabblickt, oder die groteske Slapstickvariante: ein Mann, der falsch herum in seiner Hose oder zumindest seinen Schuhen zu stehen scheint.

Nochmal: Jedes der ausgestellten Bilder ist es wert, angesehen zu werden, und zwar soweit möglich auf Augenhöhe. Die Gefahr, in der Ausstellung zu versacken und den Ausgang nicht mehr zu finden, besteht dennoch kaum. Arbus’ Fotografien fordern den aufmerksamen Blick ein, jedoch keine Versenkung, kein Sich-Verlieren im Bildraum. Wenn man von einzelnen Aufnahmen doch einmal über die Maßen absorbiert wird, sich nicht mehr losreißen kann, sollte man sich vorsehen; denn es sind böse Bilder.

Ein Unbehagen innerhalb der humanistischen Utopie

Diane Arbus, Triplets in their bedroom, N.J. 1963  © The Estate of Diane Arbus, Collection Maja Hoffmann/LUMA Foundation 

Böse Bilder, nicht: Bilder böser Menschen und schon gar nicht: Bilder einer bösen Fotografin. Ganz im Gegenteil stelle ich mir Arbus als eine herzallerliebste Person vor; anders hätte sie nie im Leben das Vertrauen der Menschen gewinnen können, die sie fotografiert. Ein Vertrauen, das sie keineswegs missbraucht. Das Böse der Bilder liegt nicht im Blick, im Verhältnis der Fotografin zu ihrem Objekt. Die Menschen auf den Bildern sind Arbus’ Komplizen. Komplizen eines Bösen, das seinen Ort jenseits der sozialen Beziehung zwischen Blicksubjekt und Blickobjekt hat.

Die Menschen sind bei Arbus, vielleicht ist das die Quelle des Bösen, von ihrem Ausdruck entzweit. Was nicht heißen soll, dass sie nicht expressiv wären, im Gegenteil. Sie sind expressiv, viel zu expressiv sogar, bis in die Finger- und Haarspitzen expressiv. Aber ihr Ausdruck ist nichts, was ihr innerstes Selbst zum Ausdruck bringt, eine harmonische, vielleicht gar intentionale Offenbarung ihres Wesens, sondern etwas, das aus ihnen herausbricht, das sie überkommt, verformt. Wie Besessene… aber besessen von was?

Im Ganzen ergibt das ein Kippbild: Auf der einen Seite ein demokratischer Reigen individueller Expressionen, ein vielgestaltiges Welttheater, das vermutlich nicht ganz zufällig im New York des mittleren 20. Jahrhundert seinen Ort hat – in einer Stadt und einer Epoche, in der sich ein an Differenz anstatt Hierarchie orientierter Humanismus als einigermaßen konsensuelles Leitbild durchgesetzt hatte. Auf der anderen Seite: cosmic horror, absolute Geworfenheit, Lovecraft, aber ohne den mythischen (und rassistischen) Überbau. Als hätten Aliens nicht einfach nur die Erde besucht und uns fotografiert; sondern vielmehr hinterher, nach ihrem Besuch, in einem Alien-Fotostudio eine Reihe menschlicher „Exemplare“ nachgestellt.

Die kategorische Unbewohnbarkeit der Welt

Diane Arbus, Untitled (4) 1970-71  © The Estate of Diane Arbus, Collection Maja Hoffmann/LUMA Foundation  JPEG, 280.93 KB 

Die Bilder im Gropius-Bau hängen wild durcheinander, sind weder nach Entstehungsjahr noch nach Motiven geordnet. Das ist schön, und auch wenn man grundsätzlich niemandem Vorschriften machen sollte für einen Museumsbesuch, so darf man doch empfehlen: Zumindest beim ersten Durchgang bitte nicht die kleine Begleitbroschüre zur Hand nehmen, die Datierung und, so vorhanden, Bildtitel nachliefert. Besser den bösen Bildern jenseits ihrer Datierung und Verortung begegnen.

Die diversen Konstellationen des Ausstellungstitels – passender wäre: Obsessionen – erschließen sich dem aufmerksamen Blick ohnehin. Zu meinen liebsten zählen: Menschen, die auf Wiesen liegen und mit ihrer Präsenz jeden Gedanken ans Naturschöne vergiften; Doppelgänger und Paare mit sich reimenden Kleidern; die bereits erwähnten Brillenornamente, Wucherungen nicht bloß von schlechtem Geschmack, sondern irgendeines tiefer liegenden Unbehagens (vielleicht: am eigenen Gesicht?).

Auch die am häufigsten vertretenen Motive geraten Arbus nie zur Masche: jeder der vielen maskierten Menschen wird von seiner Maske auf andere Art entblößt; jeder der vielen Nudisten von seiner Nacktheit auf andere Weise verhüllt. Weitere Muster betreffen das Verhältnis der Menschen zum Raum um sie herum: Immer wieder Menschen auf und vor Betten, die Arbus mit Vorliebe in ihrer Gesamtheit filmt, als weit ausladende, raumgreifende Flächen, auf denen, daran lassen die Bilder keinen Zweifel, Unaussprechliches passiert. Die Menschen auf den Betten wirken teils wie hineinkopiert. Wie überhaupt niemand genuin heimisch wirkt in den eingefangenen Wohnräumen, in bürgerlichen genauso wenig wie in (teils sehr) unbürgerlichen. Bei Außenaufnahmen wiederum öffnen sich hinter den Menschen oft Parks und urbane Brachen, die von einer kategorischen Unbewohnbarkeit der Welt künden.

„Filmisch“, sei abschließend angemerkt, sind Arbus’ Arbeiten gerade nicht. Zwei Bilder im Gropius-Bau zeigen Gruppen von Wachsfiguren, was erst auf den zweiten Blick auffällt; denn all die anderen Menschen vor Arbus’ Kamera könnten genauso gut ebenfalls Wachsfiguren sein. Der Form nach oft dem Schnappschuss verwandt, schließen ihre Fotografien dem Ausdruck nach Bewegung kategorisch aus. Selbst da, wo sie, was gar nicht so selten vorkommt, direkt auf Filmbilder verweisen. Auf Horror- und Zirkusfilme vor allem. Zwei Erkenntnisse, die der Filmkritiker mitnimmt aus der unfilmischen Ausstellung: Alle Zirkusfilme sind auch Horrorfilme. Alle Horrorfilme sind auch Zirkusfilme.

Mit Dank an Doris Kuhn, die mich auf Arbus’ Faible fürs unkonventionell Hässliche aufmerksam gemacht hat.

Die Austellung läuft noch bis 18. Januar 2026 im Gropius Bau

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