Young Ahmed – Kritik
In Young Ahmed haftet sich die Kamera der Dardenne-Brüder an einen radikalisierten Jugendlichen – der irgendwann nicht nur seinen Erziehungsberechtigten entgleitet, sondern auch dem Film.

Obwohl der titelgebende junge Ahmed fast durchgehend im Bild zu sehen ist, dreht sich Young Ahmed von den Dardenne-Brüdern nicht um eine Figur im klassischen Sinne – also um eine erkennbare Person mit einem bestimmten, in einzelnen Momenten auch für Außenstehenden durschimmernden Wesen. Vielmehr ist das eigentliche Thema des Films eine bestimmte Art der Bewegung: ein stetiges, getriebenes Vorwärtsdrängen. Ahmed, ein 13-jähriger Jugendlicher aus einer eher weltlich geprägten belgischen Familie, hat sich unter dem Einfluss eines charismatischen Imams radikalisiert, er ist zu einem bedingungslosen Gläubigen geworden.

Zu Beginn des Films ist dieser Prozess der Bekehrung und inneren Abhärtung bereits abgeschlossen, sein Verlauf wird nur in kurzen Dialogfetzen angedeutet. Oder besser: Es wird deutlich, dass dieser Prozess keinen wirklichen Verlauf hatte, er scheint sich in wenigen Wochen, quasi von einem Moment auf den anderen, vollständig vollzogen zu haben. Die Radikalisierung ist in diesem Film wie das plötzliche Entfesseln eines inneren, rein motorischen Antriebs, der keinerlei Innehalten mehr erlaubt: Unablässig schneidet sich Ahmed nun durch Wohnung und Klassenzimmer, durch Familie und Freunde, durch die Welt und durch eine Gesellschaft, von der er sich innerlich vollkommen abgekoppelt hat.
Grundangst aller Eltern

Young Ahmed vollzieht diese Bewegung seiner Hauptfigur permanent mit und rückt dabei doch vor allem die Unergründlichkeit von Ahmeds scheinbarer Zielstrebigkeit in den Vordergrund. Nichts dringt mehr zu dieser Person durch, nicht mal der ständige, bohrende Blick der Kamera: Mit stiller Verzweiflung ob der eigenen Ohnmacht steht der Film vor diesem Übermaß an innerer Entschlossenheit. Der Blick, den der Film auf Ahmed wirft, ist kein aneignender, kein mitfühlender, sondern es ist der Blick des Erziehungsberechtigten, dem der Schutzbefohlene vollkommen entglitten ist.

Die gleiche Erfahrung müssen in Young Ahmed eine ganze Reihe von Kümmererfiguren machen: Ahmeds Mutter, seine Lehrerin, ein Sozialarbeiter und auch, auf seine eigene Art, der Imam. Sie alle stehen irgendwann an einem Punkt, an dem ihre Pflicht, für Ahmed Verantwortung zu übernehmen, noch nicht am Ende ist, ihre Fähigkeit dazu aber schon. Diese Tragik, die potenziell jedem Fürsorgeverhältnis innewohnt, ist der dramatische Kern von Young Ahmed – mehr als seine konkreten gesellschaftlichen und zeitgeschichtlichen Bezüge. Die Angst, die sich in Ahmeds schlussendlich gewalttätigem Ausbruch spiegelt, es ist die Grundangst aller Eltern.
Von ruhiger Beobachtung zum Horrorfilm

Am Interessantesten ist der Film, wenn er sich ganz der Beobachtung und dem Durchlaufen verschiedener Bewegungen und Rhythmen widmet: das rituelle Waschen der Hände, die Abfolge von Händeheben-Niederkien-Stille im Rahmen des Gebets, das gleichmäßige Auf-und-Ab-Gehen während Ahmeds Gespräch mit einer Psychologin. Aber gerade die zentrale Bewegung des Films entgleitet ihm über seine Laufzeit zunehmend. Es häufen sich die Momente, in denen Ahmeds Zielstrebigkeit, seine Unbeirrbarkeit, die Ruhe, mit der er auf plötzlich auftauchende Hindernisse reagiert, und der Einfallsreichtum, mit dem er seine gewaltsamen Pläne verfolgt, beinahe übermenschliche Ausmaße annehmen. Die faszinierende Unergründlichkeit kippt dann zeitweise in ihr Gegenteil: Es ist, als hätten wir Einblick in Ahmeds Inneres und sähen: nichts. Ahmed wird in diesen Momenten zur einförmigen Bebilderung einer diffusen Bedrohung und erinnert vor allem an ein Wesen aus dem Horrorkino: Man kann nicht mit ihm reden, er fühlt weder Mitleid noch Reue und er wird vor nichts haltmachen, bevor er sein Ziel erreicht hat.
Eine hilflos emphatische Menschlichkeit

Der Film scheint dieses Kippen ins Schematische selbst zu spüren und versucht, es auf verschiedene Art wieder aufheben zu wollen – aber gerade diese Versuche wirken kraft- und hilflos. Der Film stellt dann die Möglichkeit in den Raum, dass ein erstes Busserl von einem Mädchen bereits Ahmeds gesamtes Glaubensgebäude einstürzen lassen könnte, was angesichts der Unbedingtheit in Ahmeds Verhalten geradezu absurd wirkt. In diesen Momenten – in einer aufkeimenden jugendlichen Liebe, in der ruhigen Gleichmäßigkeit körperlicher Arbeit, in einer plötzlichen Bitte um Vergebung – scheint der Film mit ein bisschen emphatischer Menschlichkeit kaschieren zu wollen, dass er von der endlosen Vorwärtsbewegung in seinem Zentrum schon längst nur mehr mitgeschleift wird. So zerfällt die faszinierende, auch unheimliche Mehrdeutigkeit der Hauptfigur von Young Ahmed am Ende in die Gegenüberstellung von zwei allzu idealisierten, allzu lebensfernen Prinzipien: der mechanischen Unmenschlichkeit und dem treuherzigen Humanismus.
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