Yet to Rule – Kritik
Mann oder Frau, Körper oder Geist, zwei Figuren oder eine? Yet to Rule setzt den Zwiespalt auf den Richterstuhl – mit nicht gerade subtiler Symbolik, aber unheimlicher Wirkung.

Die zentrale Pointe von Yet to Rule (În pronunțare) gleich vorweg: Die männliche und die weibliche Hauptfigur verkörpern verschiedene Daseinsmodi derselben Person. Man darf das verraten, nicht nur weil das Konzept bereits in den ersten Paratexten zum Film genau so eindeutig beschrieben wird: „A surrealist drama about a 40-years old criminal court judge […], shown as a struggle between ANDI, the animal within, and K, his rational side“, heißt es auf der Website der Produktionsfirma zum Langfilmdebüt der rumänischen Regisseurin Mihaela Popescu. Sondern auch, weil der Film selbst – anders als viele Filme mit Figuren, die als verkörperte Ich-Abspaltungen entlarvt werden – kein mindgame movie mit einem Rätsel und seiner Auflösung ist. Wenn Fragen wie „Was geschieht hier wirklich?“ oder „Was nehmen die Figuren innerhalb des Films wahr?“ oder „Wessen Erzählperspektive ist das?“ ohnehin ins spekulative Leere führen, kann es produktiver sein, den Film, umstandslos unter obiger Prämisse zu sehen und von Anbeginn zu verfolgen, wie sich dieses als Figurengespann symbolisierte Subjekt auf seine Umwelt auswirkt.
Wildes Gerangel am Lenkrad

Auch wenn nicht jeder Zuschauer zur selben Zeit auf diese Lesart kommen wird, bietet sie sich früh an und lässt sich mühelos aufrechterhalten. Zum einen, weil sich die Narration so eher zu einem sinnhaften Ganzen fügen lässt. Bei zwei realen Figuren wäre das ein ziemlicher Kraftakt – spätestens ab dem Moment, wenn die beiden, von einer beharrlichen Kamera durchs Treppenhaus des Gerichtsgebäudes verfolgt, nebeneinander hinterm Richterpult Platz nehmen. Zum anderen ist das, was ANDI (Toma Cuzin) und K (Dorotheea Petre) jeweils tun, jederzeit auffällig komplementär. Im Stau dreht sie gelassen den Motor ab, er fällt ihr wütend hupend ins Lenkrad, was in ein wildes Gerangel ausartet. Er sitzt am Krankenhausbett und hält die Hand des Vaters, sie stellt sich im Flur den Sorgen der Mutter, die zum Abschied dann aber wieder ihn umarmt. Sie gerät mit Ehefrau Lara (Olimpia Melinte) am Küchentisch in Kommunikations-Gaps, er sitzt stoisch mampfend daneben, bis es eskaliert und er handgreiflich wird. Sie verhandelt und (ver)urteilt, wobei er ihr manchmal in den Arm fällt. Er treibt Sport und hat Sex, was sie mal und mal weniger erfolgreich zu steuern versucht. Gleich in der ersten Sequenz führt sie ihn an der Leine zum Stadtpark und lässt ihn dann zum morgendlichen Joggen frei. Die symbolische Aufteilung erfolgt gegenläufig zu üblichen Geschlechterstereotypen – männlicher Ratio, weiblicher Emotion –, ist aber darin ziemlich schematisch und nicht besonders subtil.
Unheilvolle Wechselwirkung

Die Wechselwirkung der beiden zueinander und zu ihrer Umwelt ist dennoch unheimlich. Der hochgewachsene bärtige Mann, der immer sprachlos bleibt und nur manchmal brummt oder keucht, und die deutlich kleinere, oft unverwandt blickende Frau, die immer ruhig und kontrolliert spricht, sie komplettieren einander nicht, sie schaffen eine Lücke, ein leeres Zentrum; da sind nur gelegentliche sprachlose Affekte auf der einen Seite und affektfreie Sprache auf der anderen, die eine so reduziert im Ausdruck wie der andere. Auf ihre Umgebung wiederum wirken die beiden, notwendig stets an zwei Orten positioniert und parallel agierend, einander oft unheilvoll verstärkend. An einer einzigen Stelle wird über die Montage die eine Figur durch die andere ausgetauscht, im Gespräch mit dem Vater im Krankenhausgarten ist im Gegenschuss erst nur sie, dann nur er zu sehen. Ansonsten gibt es innerhalb einzelner Sequenzen wenig Schnitte, die verschiedenen Settings – zu denen neben den heimischen und den beruflichen noch nächtliche Ausflüge ins Bukarester sehr rot leuchtende Rotlichtmilieu gehören – werden meist in langsamen Kamerabewegungen vermessen, wobei die Inszenierung sehr genau darauf achtet, wer von beiden wann zu sehen oder von wo zu hören ist. Aber als Figuren aus Fleisch und Blut im Raum anwesend sind beide, mit fatalen Folgen für Dritte, die bis zu einer Vergewaltigung reichen.
Im Zentrum der Macht

Und dieses bedrohliche Doppelwesen aus männlicher Triebhaftigkeit und weiblicher Kontrolliertheit ist es denn auch, das in zwei jeweils über zehnminütigen One-Take-Sequenzen gegen Anfang und gegen Ende im Zentrum des Gerichtssaals Platz nimmt, um sich herum die Insignien institutioneller Macht: ein Kruzifix, die rumänische, die EU-Flagge. Es sind die zugleich nüchternsten und enigmatischsten Szenen des Films, in denen quälend lange Verhandlungen über Kleindiebstähle und Gewaltdelikte abgearbeitet werden und die Kamera dabei mit stoischer Geduld in mehreren 360-Grad-Schwenks den Saal erfasst, vorbei an den der Staatsmacht unterworfenen Delinquenten, kleinen, gebeutelten, vom Leben wenig beschenkten Leuten, den Zeugen, die nicht viel besser dran sind, einem gelangweilten Publikum und einem dösenden Staatsanwalt, der nie Fragen hat, und dann eben immer wieder bei K und Andi ins Bild setzend; sie erledigt monoton und empathiefrei einen menschlichen Fall nach dem anderen (und vertagt manche, yet to rule), er sitzt stoisch und stumm daneben.

Die Präsenz dieses Doppelwesens in den verschiedenen privaten und institutionellen Settings schafft weniger eine auserzählte inhaltliche Verbindung als ein unbestimmt-allgegenwärtiges Gefühl von Macht, Kontrolle, Regulierung. Noch über den dokumentarischen Aufnahmen eines belebten Bukarester Sommertags, mit denen Yet to Rule schließt – Leute beim Einkaufen und auf Parkbänken, beim Biertrinken, Taubenfüttern, Knutschen, Beobachten anderer; die einzigen Momente, in denen die Hauptfigur abwesend ist – liegt dieses Gefühl wie ein unsichtbarer Schatten.
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