Yen and Ai-Lee – Kritik

Taiwan Film Festival Berlin: Regisseur Tom Lin Shu-yu sucht nach Funken von Restwärme in den völlig vereisten Strukturen einer traumatisierten Familie. Mit Yen and Ai-Lee ist ihm ein ziemlich großer Wurf gelungen.

Bis auf elf Grad soll die Temperatur sinken, verkündet der Nachrichten-Sprecher im Fernsehen. Das ist ziemlich kalt für Taiwan, wo die Durchschnittstemperatur bei 22 Grad liegt. Noch viel kälter ist es im Haus von Yen (Kimi Hsia) und ihrer Mutter (Kuei-Mei Yang). Yen ist gerade nach acht Jahren aus dem Gefängnis zurückgekehrt, in dem sie einsaß, weil sie ihren gewalttätigen Vater umgebracht hat. Statt ihre Tochter nach all der Zeit zu umarmen, vertreibt die Mutter mit einem Ritual die bösen Geister, die Yen nach ihrer Tat möglicherweise anhaften.

Yen versucht, sich langsam ein neues Leben aufzubauen, doch das Stigma der Täterschaft, das sie mit Demut erträgt, macht ihr nicht nur den Alltag in ihrem wolkenverhangenen, verregneten Heimatdorf schwer, sondern auch die Suche nach einem Job. Zu Hause gibt es viele unaufgearbeitete Konflikte mit der Mutter. Und dann steht eines Tages auch noch der vielleicht achtjährige Wei (I-Le Hsieh) vor der Tür – der uneheliche Sohn von Yens Vater und seiner Geliebten. Die hat den Jungen einfach ausgesetzt und plötzlich müssen sich Yen und ihre Mutter widerwillig um ihn kümmern, obwohl er sie ständig an die traumatischen Erlebnisse mit Yens Vater erinnert. Yen schickt Wei zunächst fort, doch ihr Versuch, sich hart und kalt zu geben, bröckelt schon bald.

Auftauen: Ende der Eiszeit

Es gibt noch einen zweiten Erzählstrang, über den hier nicht viel verraten werden soll – nur dass Yen dort mit veränderter Frisur und anderer Identität auftritt, und wir bald zum ersten Mal sehen, wie ihre Augen leuchten können. Diesen Auftauprozess begleitet Regisseur Tom Lin Shu-yu in kontrastreichen Schwarz-Weiß-Bildern mit viel Geduld und noch mehr Empathie. In zahlreichen leisen, aber bewegenden Szenen schaut er zu, wie sich nach und nach etwas im Inneren der Figuren verändert: etwa wenn Yen zum ersten Mal Weis Arme um ihren Bauch legt oder Yens Mutter auf den halbnackten, schmalen Körper des Jungen blickt und ihren inneren Widerstand nach langem Kampf aufgibt, indem sie ihm zeigt, wie man einen Wäschetrockner bedient.

Mit hartem Kontrast schneidet der Film zweimal bedrückende Gewaltszenen dagegen, in denen jeweils eine Figur hilflos zusehen muss. In solchen und vielen anderen Momenten liest die Kamera aufmerksam in Yens Gesicht – blickt auf ihre zitternden Lippen, sich weitenden Augen und ganz selten auch mal auf ein vorüberhuschendes, zartes Lächeln. Kimi Hsias subtile Mimik erzählt dabei mit minimalen Bewegungen große Dramen, übrigens ganz ohne den Einsatz von manipulativer Musik.

Geschickt ist auch der Schachzug, mehrere Sequenzen aus verschiedenen Perspektiven zu zeigen, um ihre ganze Bedeutung zu entfalten – und einige entscheidende Szenen zu verzögern, bis sie an einer chronologisch „falschen“, aber affektiv richtigen Stelle sitzen.

Katharsis unter der Haube

Diese Geschichte, in der alle Figuren Opfer eines abwesenden und doch omnipräsenten Mannes sind, kulminiert in einer hervorragend vorbereiteten Einstellung, in der wir aus einer Untersicht per Close-up in Yens Gesicht blicken, das sich unter einer Haube befindet, unter deren Schutz sich endlich in einem kathartischen Monolog all die aufgestauten Emotionen Bahn brechen.

Eine weitere, unscheinbarere Szene ist jedoch nicht weniger bedeutsam: Yen und ihre Mutter begegnen einander nachts auf einer Brücke. Dort ruft Yen ihre Mutter zum ersten Mal nicht mit dem Wort „Ma“, sondern mit ihrem vollen Namen: Wu Ai-Lee. Mag sein, dass sie sich mit dieser sprachlichen Verschiebung schlicht von der Tochter zur eigenständigen Frau emanzipiert. Vielleicht ist dieser Name aber auch der maximal mögliche Ersatz für eine sehr, sehr ähnlich klingende Äußerung, die in diesem Film sonst niemandem über die Lippen kommt: Wo ai ni – Ich liebe dich.

Der Film läuft zur Eröffnung des Taiwan Film Festival Berlin

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