Wilder Diamant – Kritik

Agathe Riedinger folgt in ihrem Regiedebüt Liane, die eine Reality-TV-Show zur Flucht aus den Verhältnissen nutzen will. Im aufgerauten Look eines Sozialdramas erzählt Wilder Diamant von einer jungen Frau, die zum Phänomen wird und zunehmend die Kontrolle verliert.

„Ist ‚beliebt sein‘ ein Talent?“, wird Liane an einer Stelle des Films von ihrer Mutter gefragt. Die formuliert damit ein Unverständnis, mit dem sie in ihrer Generation nicht allein ist: Seit dem Auftauchen des modernen It-Girls und dem Aufstieg des Reality-TV bevölkern Menschen die Öffentlichkeit, die ihre mediale Existenzberechtigung daraus ziehen, dass sie in den Medien zu sehen sind.

Aufstiegsgeschichte voller Abstiege

Auch Liane, Protagonistin von Agathe Riedingers Film Wilder Diamant, will ins Fernsehen. Was sie dafür qualifiziert, ist zunächst unklar . Sie ist 19, sie legt Wert auf ihr Äußeres, sie verbringt viel Zeit auf den sozialen Medien, mit einem besonderen Talent ist sie auf den ersten Blick tatsächlich nicht ausgestattet. Mit ihrer Mutter und ihrer kleinen Schwester wohnt sie in Fréjus, 40 Fahrkilometer trennen die Stadt von Cannes – wo Riedinger ihren Film in diesem Mai präsentierte.

Sozial trennen die Boulevards von Cannes und Lianes Lebensrealität in Fréjus jedoch deutlich mehr. Sie lebt in den prekarisierten Verhältnissen der Außenbezirke, Sonne und Beton sind hier die bestimmenden Elemente. Neben der rauen, sie physisch umgebenden Sozialrealität gibt es aber noch eine andere Lebenswelt: die der Social-Media-Plattformen, erreichbar durch das Fluchtfenster Smartphone. Dort hofft Liane auf ein Ticket, ihren Verhältnissen zu entkommen. Sie will bei der fiktiven Reality-TV-Show „Miracle Island“ teilnehmen. Und tatsächlich: Während die Außenwelt nur Grobheiten für sie übrighat, bekommt sie über ihren Instagram-Kanal die Anerkennung, die anderswo fehlt: Mit 10.000 Followern startet sie am Anfang des Films. Als bekannt wird, dass sie für die Show ausgewählt wurde, wächst die Community deutlich. Es beginnt eine Aufstiegsgeschichte voller kleiner Abstiege.

Verwerfungen auf allen Seiten

Riedinger entscheidet sich für ein körniges, aufgerautes Bild und gibt damit ästhetisch Lianes sozio-ökonomischer Lebensrealität den Vorzug vor der blankgeputzten Optik der sozialen Medien. Die Kamera ist häufig ganz nah bei den Figuren, gerade so in Armlänge, an dem Punkt, wo sich Close-up und Selfie treffen. Damit bleibt die Regisseurin in einer eingeübten Ästhetik des Sozialdramas, das ab und an durch Blitze von Neon und das Licht von Ringlampen durchbrochen wird.

In diesem Modus erzählt Wilder Diamant Lianes Alltag nach dem ersten Casting für die Show und der Verkündung, dass sie teilnehmen wird. Sie geht mit ihren Freundinnen shoppen oder in den Club; sie macht Abendessen für die kleine Schwester; sie lernt Dino kennen, der sich für sie interessiert; sie geht zum Arbeitsamt; sie flüchtet aus ihrer Wohnung, weil die Mutter mal wieder einen anderen Mann als Übernachtungsgast hat. Doch das wachsende Selbstbewusstsein durch den sicher geglaubten Erfolg und die Ablehnung einer Arbeitsgesellschaft, die für Lianes unternehmerischen Plan keinen Begriff hat, führen schon bald zu Verwerfungen auf allen Seiten.

In einer der ersten Szenen des Films sitzt Liane im Regionalzug, ein junger Mann wird auf sie aufmerksam und fängt an, sie rassistisch zu beleidigen. Über diese Szene erzählt der Film nicht nur, dass Liane migrantisch gelesen wird, sondern ruft auch generell das Motiv der Sichtbarkeit auf: Sobald jemand in der Öffentlichkeit kenntlich wird, fängt die Öffentlichkeit an, sich diese Person anzueignen. In der gleichen Logik beginnen Lianas Freundinnen bald, sie für ihren Schritt entweder zu bewundern oder zu beneiden, junge Männer sie zu bedrängen, und in der gleichen Logik radikalisieren sich die Kommentare unter ihren Instagram-Posts, die der Film immer mal wieder bildfüllend einblendet. Liane wird zum Phänomen, sie lenkt die Blicke auf sich und verliert im selben Moment die Kontrolle darüber.

Verwertungslogik und Selbstbestimmung

Dabei ist Kontrolle das, was sie sucht. Der Ausspruch „Macht durch Aufmerksamkeit“ wird zu ihrem Mantra, in einer ständig gefährdeten Existenz sucht sie sich so abzusichern und Anerkennung zu finden. Ihre Inszenierung, die Veränderungen, die sie an ihrem Körper vornimmt – von den Diamantbesetzten falschen Fingernägeln bis zu den operierten Brüsten – werden zu ihrem Ausweg aus der Unmündigkeit. Wilder Diamant ist jedoch nicht naiv genug, das emanzipatorische Potenzial zu überschätzen, schließlich wird sie im gleichen Atemzug Teil einer Verwertungslogik.

Malou Khebizi spielt Liane in ihrer ersten Schauspielrolle eindrucksvoll auf der Höhe der Aufgabe: Mit der Härte ihres Milieus, mit der Ambition ihres medialen Selbstbildes und der Unsicherheit ihres Alters kann Khebizi der Figur, die auch leicht ins Klischee kippen könnte, die nötige Tiefe geben. Dass Wilder Diamant als Film überzeugt, liegt an ihr genauso wie an vielen anderen Entscheidungen, die Agathe Riedinger für den Film getroffen hat. Den Stoff, den sie sich ausgesucht hat, wurde schon auf viele andere Arten erzählt und durchdacht. Doch selten wurden die Träume, die sich für viele Menschen mit der Möglichkeit der eigenen medialen Repräsentation verbinden, so ernstgenommen und gleichzeitig so kritisch betrachtet.

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