Wenn du Angst hast nimmst du dein Herz in den Mund und lächelst – Kritik

Die junge Anna muss sowohl die Wirren der Pubertät als auch die Last der Klassenverhältnisse bewältigen. Doch Marie Luise Lehners Film ist kein wütender Rundumschlag, sein aufmerksamer Blick gilt vielmehr den kleinen Details des Alltags.

„Alles ist peinlich“, seufzt Anna (Siena Popović) in der Straßenbahn zu ihrer Mutter Isolde (Mariya Menner) und zieht die Mütze tief ins Gesicht. Den Heimweg in die beengte Zweizimmerwohnung am Wiener Stadtrand bestreitet sie fortan erheblich sichteingeschränkt. „Alles ist peinlich“ fasst den Weltwahrnehmungsmodus Pubertät treffend zusammen. Neben den (ohnehin schon strapaziösen) üblichen Pubertätsdingen hat das Peinlichkeitsempfinden der zwölfjährigen Anna allerdings mit einer materiell grundierten Scham zu tun, die sie nicht konkret benennen kann, aber mal deutlicher, mal versteckter zu spüren bekommt, seit sie das Gymnasium im noblen ersten Bezirk besucht. Marie Luise Lehners Langfilmdebüt Wenn du Angst hast nimmst du dein Herz in den Mund und lächelst macht keinen Hehl daraus, dass Anna Klassismus widerfährt. Ein Problemfilm über Klassismus ist daraus trotzdem nicht geworden, denn erzählt wird konsequent aus der Perspektive der aufgeweckten Hauptfigur, die selbst mit Mütze im Gesicht die Verhältnisse um sich herum ganz gut durchschaut.

Ein gefälschter Ralph-Lauren-Pulli verschafft Abhilfe

Die bescheidene Wohnung (zwei Zimmer, ein Bett, Dusche in der Küche), in der Anna mit ihrer alleinerziehenden, gehörlosen Mutter wohnt, kontrastiert Lehner gleich zu Beginn mit dem kathedralenhaften Schulgebäude. Annas Mitschüler*innen tragen Markenklamotten und kommen aus wohlhabenderen Familien mit Dielenboden und mehrfarbiger Beleuchtung im Smart-Home-vernetzten Wohnzimmer. Bereits am ersten Schultag fällt Anna auf, dass sie „irgendwie nicht richtig angezogen“ ist und findet den Kleidungsstil der anderen gleichzeitig doch „eher langweilig“. Ein gefälschter Ralph-Lauren-Pulli verschafft vorerst Abhilfe. Überhaupt scheint die Integration in den Klassenverbund recht mühelos zu gelingen, von Mobbing keine Spur, die Kinder sind im Rahmen ihrer Möglichkeiten lieb und nett. Nur ist dieser Rahmen in letzter Instanz doch ein finanzieller und kann nicht in jeder Situation kaschiert werden.

Zur Geburtstagsfeier einer Klassenkameradin bringt Anna als einzige ein selbstgemachtes Geschenk mit, weil das Geld für Kopfhörer, Schmuck, violette Thermosbecher und dergleichen nicht reicht. Auch die Skiwoche ist zu teuer, weshalb Isolde Anna aus Scham kurzfristig krankmeldet. Wie Anna später erfährt, hat sie nicht viel verpasst, denn „das Ärgste, was passiert ist, war, dass die Tanja zwei Flaschen Bier mitgenommen hat und dann mit der Sandra getrunken hat.“ Zum Opfer äußerer Umstände lassen Anna und Isolde sich ohnehin nicht machen, sie bauen auf ihre zeitweilig angespannte, aber überaus enge Mutter-Tochter-Beziehung und auf nachbarschaftliches Miteinander (Kirschkernweitspucken, Arcade-Games, Kartentricks). Aus dem, was da ist, das Beste machen: Isolde kauft für Anna eine Ausziehcouch, damit die beiden nicht mehr das Bett teilen müssen, und Isolde stattdessen ihren neuen Freund Atila (Markus Schramm) in selbigem näher kennenlernen kann.

Liebeswirren einer Ofenkartoffel

Anna wiederum hat früh Paul (Alessandro Scheibner), den Klassenschönling, ins Auge gefasst, der „schon echt süß“ und „richtig sympathisch“ sei, aber auch „irgendwie anders“ und „ein bisschen unreif“ – unwiderstehlich also. Paul ist jemand, den man bei „Wahrheit oder Pflicht“ zu küssen durchaus bereit wäre, wenn es sich ergibt; in jedem Fall ist er jemand, neben dem man gern in der Straßenbahn sitzt. Ob Anna in Paul verliebt ist und, noch wichtiger: ob sie mit ihm gehen würde, kann sie dann aber gar nicht sicher sagen, als Mara (Jessica Paar) sie fragt. Ob Mara, die im FLINTA*-Sommer-Camp eine Punkband gegründet hat, in Anna verliebt ist, kann oder will sie ebenfalls nicht sagen, aber man ahnt es auch so.

Zwischen Anna und Mara entsteht schnell eine enge Bindung, die sich nicht ganz auf den Begriff bringen lässt und auch nicht gebracht werden muss, wie auch im Rest des Films feste Zuschreibungen programmatisch umschifft werden. Beim Kostümball mit Tiermotto ist es daher auch zulässig, sich als elegante Ofenkartoffel zu verkleiden, denn: „Pflanzen sind auch Lebewesen… und eine Kartoffel ist eine Pflanze.“ Nicht nur die Beziehungen zwischen den Figuren bleiben offen und explorativ, auch die Anordnung der Szenen lässt Platz für Abschweifungen: Ventilatoren ansingen, in Pauls Haare pusten (um zu sehen, wie sie zittern), Affen vertonen im Zoo, die Beleuchtungsfarben im Smart Home der Mitschülerin durchprobieren, mit der Nase Jalousien streicheln, Lichtbrechungen im Lineal beobachten und so weiter. Dabei beweisen die Bilder des Films (Kamera: Simone Hart) eine besondere Sensibilität für Treppenhäuser, Balkonaussichten und andere urbane Strukturen. Struktur heißt auch eines der Lieder aus dem poppig-punkigen Soundtrack, der regelmäßig das Ruder übernimmt und die vielen Messages des Films (manchmal doppelt und dreifach) unterstreicht.

Mit Kuscheltier im Bett, mit genormtem Blick vor dem Spiegel

Die empowernde Coming-of-Age-Geschichte, die hier draufsteht und drinsteckt, kommt ohne sentimentale Höhen und Tiefen aus; am Ende sind die Figuren vielleicht ein Stück reifer und selbstbewusster, aber nicht viel mehr als am Anfang eh schon. Nicht jede Dialogzeile kommt den Jungschauspielenden glaubhaft über die Lippen, manches wirkt ein wenig steif (Assoziation: die sympathische Metal-Clique aus Thomas Arslans Mach die Musik leiser). Im verwirrenden Pubertätsalter – mit Kuscheltier liegt man im Bett, mit sexistisch genormtem Blick steht man am nächsten Morgen vor dem Spiegel und fragt sich, ob die Hüften zu breit sind – passt nun mal nicht alles zusammen: Gerade das Disparate an Wenn du Angst hast… ist erfrischend. Auf Sätze, die arg nach Drehbuch klingen, folgt zum Beispiel sowas: „…aber so classy deutsche Namen sind auch cool; Leo is’ so ein basic kurzer Name, aber is’ ein cooler Name.“ Informationsgehalt unspektakulär, aber ein glaubwürdig gebauter und vorgetragener Konversationsfetzen, den man in der kurzen Pause zwischen Französisch- und Matheunterricht genau so aufschnappen würde.

Wenn du Angst hast… ist weder wütender Rundumschlag gegen die herrschenden Verhältnisse noch utopisch-enthobener Gegenentwurf, sondern irgendwas dazwischen. Die urteilsfrei und facettenreich dargestellte Lebenswelt der Figuren stellt einiges, was gesellschaftlich falsch läuft, unaufgeregt infrage und normalisiert vieles, was in anderen Filmen ausführlich problematisiert worden wäre. Isoldes Gehörlosigkeit integriert sich in die kleinen und großen Diskriminierungen, wird vom Film aber stets mit Einfühlungsvermögen und Respekt behandelt. Anna und Isolde mögen wenig Platz in der Wohnung haben, aber sie nutzen ihn gut. Selbst eine Dusche, die in der Küche steht, ist eine Dusche, in der ein shower prank (gone wrong) gleichermaßen stattfinden darf wie die versöhnende Umarmung danach.

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