Wenn der Herbst naht – Kritik

Eine Renterin misstraut sich selbst: In Wenn der Herbst naht verbindet François Ozon angenehm subtil den klassischen Krimi mit einer gefühlvollen Meditation über das Älterwerden. Dabei spielt er gekonnt mit dem Wissen und Empfinden seines Publikums.

In François Ozons Wenn der Herbst naht gibt es eine Szene, die mein Mitgefühl und mein Rechtsempfinden heillos ineinander verknoten. Da sitzt die Mittiebzigerin Michelle (Hélène Vincent) beim Arzt (Vincent Colombe) und gesteht ihm ihre Angst, dement zu werden. Weil ihr immer wieder etwas entfalle. Seit wann sie denn so empfinde, fragt der Arzt. Seit sie ihrer Tochter Valérie (Ludivine Sagnier) giftige Pilze zu essen gab. Das könne doch allen mal passieren, antwortet der Arzt, es sei ja ein Versehen und keine Absicht gewesen. Oder? Michelle schaut ihn mit großen Augen an und wispert: “Ich weiß es nicht.”

Nun war die Beziehung von Mutter und Tochter offensichtlich eine angespannte, um es vorsichtig zu formulieren. Zu Beginn des Films fährt Valérie mit ihrem Sohn Lucas (Garlan Erlos) die Großmutter im Landhaus besuchen. Er soll ein paar Tage bei der Oma verbringen. Valérie ist patzig, fordernd, etwas aus der Vergangenheit nagt an ihr, von dem das Publikum nur ahnen kann. Sie will Geld, am liebsten gleich das Haus als Erbe, sie beschwert sich über alles, säuft gläserweise Wein und futtert dann eben die Pilze. Als sie kurz darauf mit ausgepumptem Magen im Krankenhaus aufwacht, ist sie sich sicher: Die Mutter wollte sie vergiften. Zur Strafe nimmt sie Lucas gleich wieder mit nach Paris und lässt eine am Boden zerstörte Michelle zurück.

Vorsatz oder Versehen?

All das erzählt Wenn der Herbst naht auf ruhige, naturalistische, manchmal geradezu betuliche Weise und setzt mit dieser Exposition direkt den Ton: Einerseits ist die Geschichte im alltäglichen Sinne menschlich und nachempfindbar (es gibt so viele zerrüttete Mutter-Tochter-Beziehungen), andererseits schreckt der Film nicht davor zurück, in die psychischen Abgründe von Familie zu blicken. Distanz, Missverständnisse, auch Hass zwischen Nächsten, das kennt man. Aber Mordgelüste?

Was uns zurückbringt zu Michelles Geständnis beim Arzt. Auch als Laie in Sachen Recht weiß man: Die Absicht macht schnell den Unterschied, wenn es darum geht, wie eine Tat bewertet und bestraft wird. War es Fahrlässigkeit, versuchter Mord oder versuchter Totschlag? Gab es einen Vorsatz oder war es ein Versehen? War gar Heimtücke im Spiel…? Quer zu diesen, sagen wir mal, juristischen Fragen pocht die Empathie. Die Vorstellung, nicht mehr zu wissen, ob man die eigene Tochter eventuell umbringen wollte oder nicht, ist erschütternd. Demenz, so spürt man, ist nicht “nur” zunehmende Vergesslichkeit, sondern ein schleichender, irgendwann totaler Vertrauensverlust, der auch vor dem eigenen Bewusstsein nicht halt macht. Angst und Verlorenheit spricht aus Michelles Blick. Wie kann man nicht Mitleid haben mit ihr, dieser zutiefst verunsicherten alten Dame, eventuelle Mordabsichten hin oder her. Es sei denn… sie lügt. Aber was für eine Lügnerin das wäre!

The kids are not alright

Wenn der Herbst naht ist François Ozons 24. Spielfilm und beweist einmal mehr dessen nahezu unerschöpfliche Freude am Spiel mit Genres, Publikumserwartungen und Stimmungen. In einer einzigen, ständigen Metamorphose wandelt sich der Film vom Familiendrama zu einem klassischen Whodunit-Krimi zur augenzwinkernden Geschichte einer späten Emanzipation - mit Geistern. Erzählerischer Motor ist ein Thriller-typisches Spiel mit Wissen und Nicht-Wissen, mit Andeutung und Vermutung: Können wir Michelle trauen? Warum ist Valérie so wütend auf sie? Im Herzen aber ist der Film eine sehr ernsthafte, sehr geduldige Auseinandersetzung mit dem Älterwerden und der quälenden Frage danach, was es bedeutet, als Mutter in den Augen des Kindes versagt zu haben.

“Ich war nie die Mutter, die sie sich gewünscht hat”, sagt Michelle einmal - und erhält die lakonische Antwort: “Das ist ein Klassiker.” Was, wenn das Beste, was man als Mutter geben kann, nicht genug ist - ist man dann gescheitert oder hatte man nie eine Chance? Oder ist es das Schicksal der Mutter, Projektionsfläche für die Fehler ihrer Kinder zu sein? “Für deine Tochter bist du immer an allem schuld”, konstatiert Michelles beste Freundin Marie-Claude (Josiane Balsko). Die beiden verbindet nicht nur ihre Vergangenheit - was hier nicht weiter erläutert werden soll, um nicht ein zentrales Geheimnis des Films preiszugeben. Sie waren jeweils alleinerziehend, und beide hadern damit, dass ihre jahrzehntelangen Entbehrungen ihren Kindern kein gutes Leben ermöglicht haben. Marie-Claudes Sohn Vincent (Pierre Lottin) ist ein Hallodri und Kindskopf. Er saß im Gefängnis - weshalb, das verschweigt der Film mal wieder und lässt und allein mit der Aufgabe, uns eine Meinung zu ihm zu bilden.

Wenn der Herbst naht wird so zu einem reichhaltigen, gegen Ende sogar ziemlich subversiven Film, der auf der Suche nach gelungenen Beziehungsformen jenseits bürgerlicher Enge auch teils vermeintlich unentschuldbare Handlungen leichthin durchgehen lässt. Manchmal sehen die heimelig eingerichteten ländlichen Lebenswelten vielleicht etwas stark nach ZDF-Fernsehfilm aus, wobei die Szenenauflösung allerdings auf subtile Weise zurückgenommen, manchmal fast spartanisch ist. Ozon ist ein bisschen wie Pedro Almodóvar mit angezogener Handbremse. Sein Stil ist eher gedeckt als schrill, eher naturalistisch als exaltiert. Aber bei genauerer Beobachtung ist sein Kino oft mindestens ebenso queer in seinen Positionen zu Familie, Religion, Geschlechterbildern.

Alte Wasser sind tief

Ganz dem Titel entsprechend sind in Wenn der Herbst naht - mit Ausnahme von Lucas - alle Figuren jenseits ihrer Lebensmitte; und alle haben sichtbar Erfahrungen und Erinnerungen, die ihnen den Blick aufeinander, auf sich selbst und auf die Zukunft verstellen. Im Zentrum aber steht Michelle, die von Hélène Vincent mit sichtlichem Genuss als gewitzte, lebensschlaue aber auch tief melancholische Frau im letzten Abschnitt ihres Lebens gespielt wird. Ozon beobachtet sie dabei auf zurückgenommene, unaufdringliche, neugierige Weise, begegnet ihrem Spiel mit langen Einstellungen, einem ruhigen Tempo, und lässt außerdem Momente der Leere zu. Michelle driftet immer mal wieder ab, schlummert im Auto und im Sessel ein, starrt in die Ferne, dämmert vor sich hin. Sie ist gerade deshalb ein unglaublich komplexer, vielschichtiger Charakter, weil Vincent in ihrem Spiel die Last vieler - und vieler falscher - Entscheidungen als Eigensinnigkeiten anklingen lässt, weil sie den alten Körper als einen spielt, der jede Bewegung auf ganz eigene Weise den zunehmenden motorischen Beschränkungen abgewinnt. Je älter wir werden, diese Botschaft vermittelt ihr Spiel, desto besonderer, interessanter, zerklüfteter werden wir als Personen, immer schroffer geformt aus dem Zusammenspiel unserer je einzigartigen Anlage und den Zufällen des Lebens.

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