Welcome Venice – Kritik
Nach seinem eindrucksvollen Dokumentarfilm Moleküle der Erinnerung dreht Andrea Serge gleich den nächsten Film über seine Heimatstadt. Dabei erscheint das Familiendrama Welcome Venice wie eine überdramatisierte fiktionale Nachlese.

Die atemberaubenden Naturaufnahmen, mit denen Andrea Serges Welcome Venice eingeleitet wird, passen so gar nicht zum Klischeebild der sinkenden Touristenstadt und lassen in ihrer stillen Umweltbeobachtung eine dokumentarische Tendenz erahnen. Objekt der bildlichen Begierde ist die kleine Insel Giudecca, die südlich von Venedigs Menschenmassen liegt. Wie eine schlichte Einblendung in den ersten Sekunden des Films klar macht, ist Giudecca seit fünf Jahrhunderten das Zuhause der sogenannten Moechanti, Fischer*innen, die sich den Fang der seltenen Moeche-Krebse zur Lebensaufgabe gemacht haben.
Harte Schnitte zwischen zwei Welten

Um diese Krebse geht es dann allerdings weniger, als man erwarten könnte. Sie mögen als Katalysator für einige Konflikte herhalten, aber davon, dass Hauptdarsteller Paolo Pierobon das Handwerk der Moechanti erst mühsam erlernen musste, um sich für die Rolle zu qualifizieren, merkt man doch wenig. Viel eher wird Welcome Venice zur sozialkritisch gespickten Familientragödie. Deren Dreh- und Angelpunkt sind die drei Brüder Toni (Roberto Citran), Piero (Paolo Pierobon) und Alvise (Andrea Pennacchi), die einer der Moechanti-Familien entstammen. Während Toni und Piero das traditionelle Handwerk an den venezianischen Docks leidenschaftlich ausführen, scheint Alvise vom Moeche-Gen nicht befallen. Sein Ziel ist eines, das er zwar nicht mit seinen Brüdern, dafür aber mit vielen anderen Venezianer*innen teilt: der Aufstieg in der Tourismusbranche. Den Boom der Lagunenstadt der letzten Jahre, den Serge bereits in Moleküle der Erinnerung (2021) thematisiert hat, möchte Alvise bedienen, indem er Immobilien für Tourist*innen aufbereitet und vermietet. Ein Verlangen nach Profit, das das bei Toni und Piero auf taube Ohren stößt.

Andrea Serge macht auf den extremen Kontrast dieser beiden Lebensrealitäten wenig subtil aufmerksam. Mit harten Schnitten spielt er die beiden Welten gegeneinander aus, und auch im Szenenbild blitzen die blankgeputzten Schuhe der Immobilienhaie offensiv gegen die nasskalte und krabbelnde Wirklichkeit des Fischereialltags. Die Kluft zwischen dem Hochglanz-Venedig und der Fischerbucht wird dann auch in der Handlung fast vollständig unüberbrückbar, als Bruder Toni einem Unwetter zum Opfer fällt und Piero neben dem Erbe der Moeche-Fischerei zudem sein Haus zurücklässt, ein Nachlass, der den ideologischen Familienkonflikt neu anfacht.
Mafioso-Lookalike vs. Brummbär mit großem Herz

Die für Toni tödlich endende Sturmnacht zeichnet einen dieser Momente, in denen Welcome Venice die Unnachgiebigkeit der Natur zur treibenden Kraft der Handlung macht und darin beinahe brilliert, nicht zuletzt dank der eindrucksvollen Naturaufnahmen, die Giudecca zu einem faszinierenden wie tückischen Kleinod werden lassen. Doch mit jeder voranschreitenden Sekunde kommt der Film mehr davon ab, zugunsten des austauschbaren Narrativs einer Familie, die sich zusehends zerfleischt. Die Brüder Alvise und Piero werden immer mehr zu Karikaturen ihrer vormals ausdifferenziert gezeichneten Persönlichkeiten, der geldversessene Mafioso-Lookalike, der das Haus des toten Bruders ungeniert zum Airbnb umfunktionieren will, tritt nun an gegen den Brummbär mit großem Herz. Der kritische Ansatz, den Welcome Venice eigentlich verfolgen will – die dem Tourismus geschuldete Überwirtschaftung der Stadt und die daraus folgende Notlage vieler Italiener*innen anhand des Schicksals einzelner Figuren zu zeigen – wird von solchen Stereotypen bald überschattet.
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