Was Marielle weiß – Kritik

Frédéric Hambaleks schöne, klug reduzierte und wendige Ehekomödie Was Marielle weiß blickt mit viel Gespür für kommunikative Ironie auf die kaum vermeidbaren Ausweich- und Vermeidungsmanöver zwischen Partnern - und auf ihr Verlangen, diese Abgründe zumindest zeitweilig zu überwinden.

Was weiß Marielle (Leani Geiseler)? Zuviel. Seitdem sie von einer Mitschülerin geohrfeigt wurde, hat das Teeniemädchen gegen ihren Willen psychischen Zugang zur Erlebniswelt ihrer Eltern Julia (Julia Jentsch) und Tobias (Felix Kramer). Wie als hätte die Schelle ihre Neuronen neu verdrahtet. Es ist, als würde ich das alles, was Du erlebst, selbst erleben, meint sie einmal zu ihrer Mutter.

Viel genauer wird die absonderliche Prämisse des Films nicht erläutert. Gelegentlich sehen wir, von klassischer Musik untermalt, eine womöglich psychische Botschaften empfangende Marielle im sonnenüberflutenden Gegenlicht; und auch die überwachungskameraartig verzerrte visuelle Perspektive, in der einige Szenen aufgenommen sind, mag man mit der spirituellen Präsenz Marielles in Verbindung bringen. Doch all das ist eher Beiwerk und lenkt - zum Glück nie allzu lange - vom Kern des Films ab: einer gut geölten, wendigen und erfreulich zynismusfernen Ehekomödie.

Vor allem ist Was Marielle weiß ein klug reduzierter Film. Sowohl Tobias’ als auch Julias Handlungsstrang ist um ein einzelnes Problem, beziehungsweise einen einzelnen Arbeitskollegen herum organisiert. Im Fall des Ehemanns ist es ein ehrgeiziger und schon herausragend nerviger Typ namens Sören, der Tobias’ Autorität, obwohl der nominell sein Vorgesetzter ist, systematisch untergräbt. Die Ehefrau hingegen lässt sich während einer Raucherpause auf eine - zunächst nur verbal - geteilte Sexfantasie mit einem Max ein, der ein wenig wie die jüngere, heißere Version von Tobias ausschaut.

Der Elefant geht nicht mehr weg

Gäbe es nicht die wissende Marielle, würde wohl für beide Episoden gelten: what happens at work stays at work. Da Marielle jedoch weiß, erscheinen die in Partnerschaften kaum vermeidbaren Ausweich- und Vermeidungsmanöver plötzlich als das, was sie natürlich ohnehin sind: als Akte des Verrats nicht nur am anderen, sondern auch an sich selbst. Beziehungsweise: als Teile einer geteilten Lebenslüge. Sie werden zu einem Elefant, der plötzlich in jedem Raum steht und keine Anstalten macht, wieder zu verschwinden.

Von hier aus bewegt sich Frédéric Hambaleks Film sozusagen in einer Scherenbewegung vorwärts. Mal gleiten die beiden Klingen der Schere auseinander und die Handlungsstränge an den Arbeitsplätzen der Eltern werden vorangetrieben - wobei der des Ehemannes eher in Richtung harmlosem Sitcom-Humor ausschlägt, während der der Ehefrau sich, auch aufgrund Jentschs vortrefflicher Performance, deutlich weiter in Richtung Fremdscham-Körperkomik vorwagt. Und mal schließen sie sich wieder, wenn Julia und Tobias wieder zuhause eintreffen und sich dem Elefanten im Raum und auch ihrer Tochter stellen müssen - die sich, von der Situation verständlicherweise mindestens ebenso sehr überfordert wie die Eltern, immer mehr in ihrem Kinderzimmer verkriecht. Neben ihrem Bett steht, tatsächlich, ein Spielzeugelefant.

Zu Holzhammermetaphorik neigt der Film ansonsten freilich keineswegs; zur satirischen Generalabrechnung mit dem Kulturbürgertum - entsprechende Befürchtungen kann man zu Beginn durchaus haben - wird der stets auf Augenhöhe mit seinen Figuren operierende Film zum Beispiel kein bisschen. Vielmehr beweist Hambalek Gespür sowohl für kommunikative Ironien als auch für soziale Situationen. Etwa, wenn Julias Sexgelüste konsequent als “Raucherpausen” umcodiert werden. Fast wirkt es, als wäre ihr der Verdacht, sie könnte heimlich zur Zigarette greifen, peinlicher, als das Eingeständnis ehelicher Untreue.

Die kleine gemeinsame Unbekannte

Als ein geschickter Schachzug erweist sich außerdem, dass Marielle selbst im Film weitgehend eine Leerstelle bleibt. In der Schule sehen wir sie nie. Wenn sie in einer Szene auf das Mädchen trifft, das ihr die Ohrfeige verpasst hatte, regt sich durchaus der Verdacht: Vielleicht ist sie schlichtweg ein kleines Biest. Und hatte, möchte man denken, bevor man – auch das kalkuliert der Film ein – vor dieser Folgerung zurückschreckt, die Abreibung womöglich verdient.

Vor allem: Wir kennen sie schlichtweg nicht, und auch Julia und Tobias wissen kaum etwas über ihre Tochter. Das Zuviel an Wissen, das Marielle hat, verweist ex negativo, das wird gegen Ende des Films immer deutlicher, auf ein Zuwenig an Wissen - auf das Nichtgewusste und Unausgesprochene, das zwischen allen Menschen existiert. Und auf Entfremdungsprozesse - die Pubertät ist einer davon - die einerseits irreversibel sind; mit denen sich die Beteiligten aber andererseits auch nicht ohne Weiteres abfinden können. Ein schöner Film ist Was Marielle weiß auch deshalb, weil er weder die Entfremdung das letzte Wort haben lässt, noch seine Figuren an eine billige Harmonie-trotz-allem verrät. Vielmehr steht am Ende ein Blickwechsel, der den realen Abgrund zwischen zwei Menschen ebenso zu seinem Recht kommen lässt wie das Verlangen, ihn zumindest momenthaft zu überwinden.

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