Warten auf Bojangles – Kritik
Das Leben meistern, indem man es an der Nase herumführt: Der chamäleonhafte George und die manisch-depressive Camille pendeln zwischen Ekstase und Absturz. Warten auf Bojangles liegt mit der Realität genauso im Clinch wie seine beiden Hauptfiguren.

Warten auf Bojangles ist eine Geschichte über Geschichten. Genauer gesagt ist es eine Geschichte über eine Familie, die durch ihre Geschichten gegen das Leben ankämpft. Geschichten besitzen Macht: Sie können Realitäten bilden, in die wir vor dem Alltag fliehen. Sie können instrumentalisiert werden, um zu manipulieren, oder wir können uns selbst in Erzählungen verlieren. Régis Roinsards Film handelt genau davon: von einer Familie also, die gegen das Leben ankämpft, einfallsreich und exzessiv, und vom Leben, das zehnmal so stark zurückschlägt.
Eine Jahrhundertliebe

Wir starten in den frühen 1950er Jahren, als Georges (Romain Duris) sich auf eine Party schleicht. Das Meer glitzert am Horizont, während sich Industrielle mit Sektgläsern über die Marmorterrasse eines Anwesens schieben. Leichtgläubig lauschen die Partygäste den Geschichten des jungen Mannes mit breitem Grinsen, der sich mal als rumänischer Nachkomme Draculas, mal als spanischer Erbe eines Automobilmoguls ausgibt, ein Salon-Chamäleon mit ständig wechselnden Identitäten. Aber die Zeit steht plötzlich still, als er Camille (Virginie Efira) entdeckt. Direkt sehen sie einander an, dass sie beide hier nicht reinpassen, vielleicht sogar nirgends wirklich. Nur ist es ihnen eben egal. Wie Bonnie und Clyde entkommen sie im Cabriolet über die Pisten der Côte D’Azur, die Heirat folgt schon am nächsten Tag – es ist eine Jahrhundertliebe. Camille und Georges teilen die Überzeugung: Das Leben zu meistern bedeutet, es so gut wie möglich an der Nase herumzuführen. Georges kämpft spielerisch gegen die Realität des Erwachsenendaseins zwischen Gehaltschecks und Steuerabgaben; die ungeöffnete Post stapelt sich hüfthoch neben der Wohnungstür. Camille dagegen kämpft gegen die Realität ihrer eigenen Psyche: Sie, so stellt sich bald heraus, ist manisch-depressiv.

Warten auf Bojangles beginnt als üppige Komödie und schafft dadurch eine beachtliche dramatische Fallhöhe. Realismus ist Roinsard genauso unwichtig wie den Hauptfiguren. Menschen schweben sekundenlang in der Luft oder verfallen in spontane Tanzchoreografien. Später leben Camille und Georges mit ihrem Sohn Gary (Solan Machado-Graner) in der Großstadt; die ausladenden Partys, die sie jeden Abend veranstalten, sind mit kontrastierender Einfachheit eingefangen. Die Kamera ist verliebt in Symmetrien, vertraut mehr auf die Bewegung von Körpern im Raum als auf schnelle Schnitte. Das Kostümbild wiederum ließe sich auf einer Musicalbühne noch aus den hintersten Reihen bestaunen. Diese Überspitzungen verleihen dem Film jene erhöhte Realität, die sich spätestens seit der fabelhaften Welt der Amélie (2001) im französischen Kino so wohlfühlt. Eine psychische Krankheit kann hier auch deshalb organischer Mittelpunkt der Handlung werden, weil Drehbuchautor Romain Compingt der Versuchung widersteht, auf Stereotype zurückzugreifen. Innerhalb des bunten Settings erlaubt er den Figuren zu atmen, zu zweifeln, lädt uns dazu ein, mit ihnen mitzufühlen und unter die Oberfläche zu schauen.
Hoffnungsvolle Ekstase, unvermeidbarer Absturz

Auf jener Oberfläche folgt der Film bewährten Erzählmustern. Als Camille nach einer manischen Episode in eine Psychiatrie eingewiesen wird, hecken Georges und Gary den Plan aus, sie zu entführen und gemeinsam nach Spanien zu fliehen. Sie kommen in der malerischen Villa eines Freundes unter. Wie bei ihrem ersten Kennenlernen glitzert das Blau des Pazifiks um sie herum, Olivenbäume wiegen sich im Wind. Doch eine Krankheit lässt sich eben nicht von Geschichten besiegen – vor allem nicht im Frankreich der 1960er Jahre, das unter Psychiatrie noch Eisbäder und Schocktherapien versteht. Mit zunehmender Gewalt zieht Roinsard die Familie in die Realität zurück. Camilles manische Episoden stellt er mit schmuckloser Direktheit dar. Der Film imitiert in seiner Form den Krankheitsverlauf, schraubt sich in hoffnungsvolle Ekstase, um von oben den Blick auf den nächsten, unvermeidbaren Absturz freizugeben.
Mit der Realität im Clinch

Am Ende – das ist spätestens in den letzten poetischen Minuten klar – will Warten auf Bojangles dennoch kein Film über eine Krankheit sein, sondern ein Lobgesang auf die Unsterblichkeit der Liebe; der Umgang der Familie mit Depressionen, dem er sich so lange widmete, verliert demgegenüber an Wichtigkeit. Andererseits entsteht daraus am Ende ein Werk, das genauso mit den realen Implikationen seiner Geschichte im Clinch liegt wie seine Hauptfiguren. Was Warten auf Bojangles außerdem ist: ein ausladend-sensibler Film, gewagt in seinem Spagat zwischen Euphorie und Tragik, achtsam vor der Komplexität menschlicher Psychen, lebensbejahend, unperfekt und tieftraurig.
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