Vitalina Varela – Kritik
VoD: Ein Film, der von einem Verstorbenen erzählt, dessen physische Spuren längst verwischt wurden. Vitalina Varela ist eine Totenmesse, die Pedro Costas Ästhetik und Erzählfiguren konsequent fortsetzt.

Die Stufen, die Vitalina Varela auf portugiesischen Boden führen, sind mit Tropfen benetzt. Ihr Gesicht ist nicht zu sehen, und doch können es nur ihre Tränen sein, die noch vor ihren Füßen die Erde berühren. Jahrzehntelang hat sie darauf gewartet, ihren Mann Joaquim hier in Lissabon zu besuchen. Eine Einladung gab es nie. Und es wird sie auch nicht mehr geben. Joaquim ist vor drei Tagen gestorben. Nicht im Haus auf den Kapverden, das sie gemeinsam gebaut haben, nicht unter dem blauen Himmel, nicht vor dem Bergkamm, über den die Wolken zähflüssig ins idyllische Tal ziehen, sondern hier in den Slums von Lissabon, nach 25 Jahren Abwesenheit. An dem Ort, den Pedro Costas Filme immer wieder aufsuchen.

Zitternde Hände, die nicht mehr beten wollen
„Hier gibt es nichts für dich“, sagen ihr die armen Seelen, die diesen Stadtteil bewohnen, der vielleicht Fontainhas ist oder zumindest einmal so genannt wurde. War Costas voriger Film Horse Money (2014) bereits ein geisterhaftes Gemälde im 1:1,37-Format aus diesem Teil Lissabons, so ist Vitalina Varela eine Totenmesse, die Ästhetik und auch die Erzählfiguren von Costas Œuvre konsequent fortsetzt. Das in seinen Filmen schon immer rare Tageslicht ist hier mit Vitalinas Ankunft am Flughafen gänzlich verschwunden. Tritt es doch einmal durch einen Türspalt in das Haus des verstorbenen Manns, wird es schnell in einen winzigen Winkel des Zimmers gedrängt oder ganz ausgesperrt. Im Chiaroscuro dieses Innenraums verharrt Vitalina. Über das Rauschen ihrer Gaslampe hinweg ist das Treiben der Einwohner zu hören. Babyschreie, vom Beton gedämpfte Fernsehlaute und Gackern aus einem Hühnerstall durchdringen die sauber komponierten Tableaus des verwinkelten Armenviertels.
Mal ist die Witwe hier allein und wie erstarrt, mal umringen sie die ehemaligen Freunde Joaquims, die wie Besucher aus einer fremden Welt wirken und nicht etwa das lokale Portugiesisch, sondern kapverdisches Kreol, die Umgangssprache ihres fernen Heimatorts, sprechen. Das Labyrinth aus altem Beton, das sie umgibt, ist in die gleiche Dunkelheit gehüllt, die den gesamten Film verschlingt. Das Bild selbst scheint mit Vitalina zu trauern. Das Licht duldet es nur, um sein fast allumfassendes Schwarz noch dunkler erscheinen zu lassen. Durch die Schattenwelt des Films schleicht auch Ventura, ein alter Bekannter aus Costas kontinuierlichem Werk, der diesmal als Priester auftritt. Seine Hände zittern noch immer. Stärker sogar, so scheint es, als in Horse Money. Als wollten sie sich dagegen wehren, noch einmal zum Gebet geschlossen zu werden.

Jeder Fluch verhallt in der Finsternis
Der physische Zustand Venturas – das gilt sowohl für die Figur wie für den Darsteller – ist untrennbar mit der Ästhetik des Films verbunden. Costa bietet keine Dramaturgie an, hilft nicht mit Symbolismus aus, sondern lässt Ventura den Leidensweg selbst gehen. Dieser braucht seine letzten Kraftreserven für eine Liturgie auf, bei der er wieder und wieder zusammenbricht. Die Trauer, die Vitalina, den Priester Ventura, das gesamte Viertel und jeden Geist, der darin umherschlurft, einschließt, verkommt trotz der malerischen Hell-Dunkel-Stilisierung nie zum leeren Erhabenheitsgestus. Die Menschen, so sehr sie das Licht modelliert, wirken in der tristen Umgebung des Films nie wie säuberlich gesetzte Fremdkörper, sondern scheinen fest mit ihr verwachsen zu sein. Ihre Präsenz verweist immer auch auf eine Welt außerhalb des Films. In diesem Sinne ist Vitalina Varela vielleicht auch ein transzendenter Film. Ein Film, der von einem Toten erzählt, dessen physische Spuren längst verwischt wurden. Alles, was wir von Joaquim sehen, wird bereits in der ersten Szene dem Feuer übergeben. Das blutige Laken, die Fotos seiner Geliebten und die letzten Reste seiner Klamotten sind bereits verbrannt, bevor Vitalina in Lissabon gelandet ist. Jeder Fluch, den sie gegen den verstorbenen Ehemann ausspricht, jede Erinnerung, die sie wie eine Gebetsformel rezitiert, verhallt in der Finsternis. Eine Finsternis, in der sich eine tiefe, quälende Leere auftut, die irgendwo den Geist eines Toten verbirgt.
Bis zum 31.12.2020 kann man sich den Film für 4,99 Euro bei Grandfilm on Demand ansehen.
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