Vigil in the Night – Kritik

Die Oberin, ihre Schwesterntruppe und ein überkorrekter Arzt: In George Stevens’ Vigil in the Night (1940) handeln die Frauen und verblassen die Männer, während eine Pockenepidemie ihren Weg aus den Nachrichten in eine heruntergesparte Intensivstation findet.

 

 

So etwas hab ich schon als Kind sehr gern gesehen, wenn ich krank war. Das „RKO“-Logo mit den Morsezeichen und Blitzen um den Funkturm kommt wie aus einem Fiebertraum. Der Film öffnet die Tür wie ein alter Butler. Gut lesbar und zuvorkommend beschriftet er die Dinge, die ihm wichtig sind, „Hospital“, und „Isolation Ward“. Dann führt er uns mit flackerndem Gaslicht in seine Geschichte.

Als würden sie leise vor sich hin summen

 

Großbritannien, Ende der Dreißigerjahre. Spät in der Nacht, strömender Regen. In einem Fenster des städtischen Krankenhauses brennt noch Licht; eine junge Krankenschwester sitzt über ihrem Bericht. Der Film trägt uns näher. Wir sehen frontal ihr schönes, ernstes Gesicht; sie sieht uns nicht. Sie bewacht den Schlaf eines kleinen Jungen. Da ist ein schreckliches, pulsierend atmendes Loch in der Kuhle zwischen seinen Schlüsselbeinen. Neben seinem Bett strömt (desinfizierender?) Qualm aus einem Gerät. Er schlägt die Augen auf, starrt versunken in eine unsichtbare Ferne. Dann schaut er hin zur Krankenschwester und lächelt. Die große orchestrale Musik (Alfred Newman, „The Song Of Bernadette“, „Love Is A Many Splendored Thing“, „The King And I“) läuft silbrig und lebendig wie ein kleiner Bach unter den Bildern und strömt vor Emotion. Jemand streicht tief und aufgewühlt über seinen Kontrabass. Beruhigend legt sich eine Dirigentenhand auf seine.

Die Krankenschwester Anne (Carole Lombard) schwebt zwischen Leben und Tod. Und doch verströmt ihre Art zu spielen etwas, als fühlte sie sich trotzdem wohl, zuhause in ihrer Haut und ihrer Rolle. Auch bei den andere ist das so, als würden sie leise vor sich hin summen. Die Bilder von Vigil in the Night sind zweideutig: zugleich „viktorianischer Realismus“ und geheimnisvoll, fast surreal. Häufig sind sie bis zum Rand gefüllt mit seidig glatt gebügelten, gestärkten und gefältelten, blütenweißen Krankenschwesterstoffen. Auf den Rücken laufen breite, weiße Träger exakt und mittig überkreuz; die Rückseiten der vorne bogenförmigen Häubchen sind reich gerüscht wie englische Rosen. Sämtliche Frauen sind originell und interessant. Die Männer verblassen. Die zaghafte Liebesgeschichte zwischen der zärtlichkeitsbedürftigen Anne und dem ihr gegenüber unaufmerksamen und überkorrekten Doctor Prescott lasse ich deshalb (auch ihm zur Mahnung) in der Ecke stehen.

Medizin gegen den Krieg

 

Die Frauen: Ethel Griffies, die Ornithologin aus Hitchocks Die Vögel, hat eine schöne, große Nase und ein schön androgynes, faltiges Gesicht. Sie spielt die Oberin (auf Englisch: „matron“) der Schwesterntruppe. Die Parallele zum nahenden Krieg ist dem Film bewusst; Vigil in the Night, Produktionsjahr 1940, versteht die Medizin – ausdrücklich, wenn ich den Dialog richtig verstanden habe – als friedfertigen Gegenpol, der Leben retten und erhalten will. Ich mag auch die heimlich rauchende, lustige Kollegin (Brenda Forbes) mit ihrem langen Tantengesicht wie Josephine Baker. Anne, sehr schlank, sophisticated, changierend zwischen Leuwerik und Garbo, trägt in den raren Szenen außerhalb ihrer Arbeit eines dieser knappen, körpernah geschnittenen Dreißigerjahre-Schneiderkostüme. Sie sieht darin aus wie mit einem spitzen Bleistift gezeichnet, scharf umrissen, definiert, aufrecht und tapfer. Ihr kleiner, asymmetrischer Hut hat einen vorwitzigen Schwung (Kleider: Walter Plunkett). Wenn die Krankenschwestern ihre Mundschutzmasken anhaben, sehen sie so crazy unwirklich aus wie wir in unseren Coronatagen, wie ein Fetisch oder eine Kunstaktion. Ein umgestürzter Bus im strömenden Regen in der Nacht, mit hilflos drehenden Rädern wie ein umgekippter Käfer.

Nichts ist so schlecht wie eine schlechte Krankenschwester und nichts so gut wie eine gute.“

Die erste Filmhälfte zeigt das soziale Gefüge im Krankenhaus. Es ist starr und anstrengend, aber das könnte noch okay sein, wäre es nicht von allen Seiten beeinträchtigt durch Geldgier, Egoismus, Zudringlichkeit, Eifersucht, Intrigen, Schuldzuweisungen, Sorgen um den guten Ruf und Unaufmerksamkeit.

Dann werden alle allzumenschlichen Schwächen auf einen Schlag irrelevant.

 

Die Epidemie, small poxes, die besonders kleine Kinder trifft, aber auch Erwachsene anstecken kann, beginnt zuerst nur in entfernten Nachrichten. Doctor Prescott sieht sie kommen, warnt Matt Bowley, Finanzchef des Hospitals. Drängt ihn vergeblich, mehr Geld für die Ausrüstung der Intensivstation aufzutreiben. Es klingt vertraut. In kürzester Zeit eskaliert die Situation. Man betritt die Quarantänestation, eine von der alltäglich funktionierenden Gesellschaft isolierte Welt, in der Ausnahmezustand, Alarm, Entsetzen, Not und Panik herrschen, „hopelessly overcrowded and completely out of equipment“ (the matron). Der Oberarzt blättert die Seiten der Krankenberichte nur noch mit einer sterilisierten Pinzette um. Schließlich lässt die resolute Oberin kurzerhand an den Behörden vorbei die dringend benötigten Dinge beschaffen.

Das Rekrutieren Freiwilliger gestaltet sich schwierig. Die meisten sind eh schon überarbeitet und durch Matt Bowleys Sparmaßnahmen am Ende ihrer Kräfte. Trotzdem entsteht unter ihnen mehr und mehr ein rührender Gemeinschaftsgeist, der Kreise zieht. Viele aus der ersten Hälfte von Vigil in the Night melden sich zurück und helfen. Man trifft am Ende praktisch alle wieder. Auch Matt Bowley und seine Gattin. Fassungslos schauen sie über einem Halbfenster ihrem Kind nach, das (wir sehen das in der Spiegelung) im Rollbett an ihnen vorbei in die Quarantäne geschoben wird (Kamera: Robert de Grasse).

Alles schmilzt und verschmilzt

 

Lucy, Annes jüngere, leichtfertigere Schwester, hat in der Vergangenheit einen für ein Kind tödlichen Fehler gemacht. Seitdem wirft sie sich vor, ein schlechter Mensch zu sein. Verzweifelt will sie sich bewähren und fixiert sich auf den schwer erkrankten kleinen Sohn der Bowleys. Sie lässt ihn Tag und Nacht nicht aus den Augen. Die anderen kleinen Pockenpatienten gucken interessiert aus ihren Gitterbettchen zu: ein eindrucksvoll geschnittener Blümchenkranz tief besorgter, knuffiger, verschlafener Kindergesichter (Schnitt: Henry Berman, der viel mit John Frankenheimer zusammengearbeitet hat). Sie sind so verwundert und ganz Auge, wie kleine Katzen. Wie Kinozuschauer eigentlich auch. Dann steigert sich in der Nacht das Fieber des Kleinen, und es kommt zur Krise. Lucy rennt Alarm, aber sie ist allein. Sie zerrt die klobige, zylindrische Beatmungsmaschine ans Bett des Jungen, aber sie ist leer. Da beugt sie sich zu ihm, Mund-zu-Mund-Beatmung. Und obwohl sie sich um seinen kleinen Körper kümmert, ist es mein Körper, der eine Gänsehaut bekommt und dem das Herz von Tränen überströmt; alles schmilzt und verschmilzt. Auch Anne bricht schluchzend zusammen. Und endlich tröstet Doctor Prescott sie. Und Anne, ganz weich und voller Liebe: „Come, my Doctor Prescott, there’s work for us to do.“

                                                           *

In der europäischen Fassung geht der Film noch weiter: Man hört in Doctor Prescotts Büroradio, wie Premierminister Chamberlain bekanntgibt, dass Hitler sich geweigert hat, seine Truppen aus Polen abzuziehen, und somit der Krieg zwischen Deutschland und Großbritannien beginnt. Weil die USA damals noch nicht in den Krieg eingetreten waren, ließ man in der US-Fassung diese Nachricht und Annes und Prescotts Reaktionen weg.

 

Vigil in the Night liegt ein Roman zugrunde. Er erschien 1939 in Fortsetzungen in dem auch heute noch existierenden amerikanischen Good Housekeeping. Geschrieben hat ihn der schottische Schriftsteller, Chirurg, Schiffs- und Arbeiterarzt Archibald Joseph Cronin (1896-1981). Die Älteren von uns kennen seinen Namen wahrscheinlich von den Rücken der Bertelsmann-Bücherringausgaben in elterlichen Wohnzimmerregalen. Cronins weltweit erfolgreiche Romane in der Tradition des viktorianisch realistischen Bildungsromans (etwa Die Sterne blicken herab, verfilmt 1940 von Carol Reed) waren biographisch geprägt, spannend und lebensnah und stellten große, sozialkritische, (christlich-)moralische Fragen. So hab ich es jedenfalls in einem Artikel über ihn gelesen, und so stimmt es auch für Vigil in the Night. Ein tiefer und besorgter Kammerfilm für kuschelige Quarantänetage (Regie: George Stevens, Schöpfer berühmter Filme wie Ein Platz an der Sonne, Mein großer Freund Shane, Giganten).

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