Vermiglio – Kritik
Heranwachsende Töchter in einer italienischen Bauernfamilie während des 2. Weltkriegs: Vermiglio richtet mit kühler Bildsprache den Blick darauf, wie sich die gesellschaftliche Ordnung und die Notwendigkeit des Weitermachens in Körper einschreiben.

Vermiglio beginnt mit dem Anbruch eines Tages: Drei junge Frauen liegen schlafend in einem Bett, die Eltern im anderen. Weitere Betten, weitere Kinder. Ein Baby im Beistellbett beginnt zu schreien, die Familie erwacht. Schon in den ersten Bildern wird deutlich, dass die Lebensverhältnisse, denen wir hier beiwohnen, weder Luxus noch große Selbstverwirklichung zulassen. Eine Kuh wird gemolken, Schnitt – jedes Kind bekommt eine Kelle Milch ins Tässchen. Um die Familie zu ernähren, muss jemand früh aufstehen, die nötige Arbeit verrichten. Das Leben steht im Zeichen der Pflicht.

Der zweite Spielfilm der italienischen Regisseurin Maura Delpero – und, nur am Rande, italienischer Oscar-Beitrag 2025 – erzählt in stoischen, klar komponierten Bildern vom Leben einer Familie gegen Ende des Zweiten Weltkriegs. Der Krieg bleibt dabei weit entfernt, als Hintergrundgewölk, das aber doch Schatten wirft auf das titelgebende Alpendorf, in dem immer Schnee liegt und die Umwelt zugleich schön und bedrohlich erscheint. Zwei Deserteure aus Sizilien suchen Zuflucht in der abgeschiedenen Dorfgemeinschaft, die ihrerseits Männer an die Front verloren hat – einige werden zurückkehren, andere nicht. Das Leben geht weiter, so oder so, von Tag zu Tag, in Routinen und Verpflichtungen, in der Notwendigkeit des Weitermachens.
Ein von Schuldgefühlen geprägtes Begehren

Im Zentrum der Erzählung stehen die drei heranwachsenden Töchter der Familie. Lucia, die Älteste, verliebt sich beinahe wortlos in einen der Deserteure, ihre Zuneigung drückt sich in einem Kuss, in einem auf Papier gemalten Herzchen aus. Ada, innerlich zerrissen, zieht sich in sich selbst zurück: heimlich masturbiert sie in dunklen Ecken des Hauses, nur um sich danach für ihre Sünde selbst zu bestrafen – ein stiller, verzweifelter Versuch, Kontrolle über ein von Schuldgefühlen geprägtes Begehren zu erlangen. Flavia, die Jüngste, klug und aufgeweckt, steht vor dem möglichen Schulwechsel in die Stadt – oder besser: der Schulwechsel wird für sie angestrebt, von außen an sie herangetragen. Denn alle drei Figuren bewegen sich innerhalb enger Rollenbilder, müssen sich fügen, den Rahmenbedingungen des ihnen zugewiesenen Lebens anpassen.

Diese Bedingungen finden eine klare Verkörperung in der Figur des Familienvaters Cesare. Er ist nicht nur das Oberhaupt der Familie, sondern auch Lehrer seiner eigenen Kinder und Gelehrter des Dorfes. Er entscheidet, wer einen Schulabschluss bekommt, wer heiraten darf, wie über richtig und falsch zu denken ist. In seinem konservativen Wertesystem stehen Sittlichkeit, Disziplin und Gehorsam über allem. Erwachsenwerden bedeutet, Regeln zu verinnerlichen, Ordnung zu halten, sich einzufügen. Das pädagogische System basiert auf Nachahmung, Bestrafung und emotionaler Distanz. Die Schule ist hier keine individuelle Bildungsstätte, sondern ein Ort der Gleichmachung – ein Mechanismus der Disziplinierung.
Man nimmt Rollen an, macht sich gerade

Und doch wird Vermiglio nicht zum thesenhaften Schwarzweißfilm, in dem ein autoritärer Vater den freiheitsliebenden Töchtern das Leben verdirbt. Delpero verweigert sich solchen Vereinfachungen. Sie nimmt sich Zeit, bleibt sparsam in ihren Mitteln, verzichtet weitestgehend auf laute Dramatik und eindeutige Psychologisierungen. Stattdessen legt sie den Blick frei auf Strukturen – darauf, wie gesellschaftliche Ordnung sich in Körper einschreibt, in Bewegungen, Gesten, in die Art und Weise, wie Menschen sprechen, schweigen, einander anschauen. Die Figuren erscheinen dabei nicht als „authentische Individuen“ mit festem Kern, sondern als der Ordnung zugehörige Körper, die je nach Kontext unterschiedlich agieren, reagieren, funktionieren. Besonders im engen, öffentlichen Raum der Institutionen geht es hier nicht um Teilhabe, um die Entfaltung eines Individualismus; man nimmt Rollen an, macht sich gerade. So wird auch Cesare nicht als böse gezeichnet, sondern als jemand, der sich in seine Position eingefügt hat, vielleicht in ihr verknöchert ist. In der Intimität mit seiner Frau zeigt er sich so besorgt wie sorgsam, in der Schule streng, im Alltag meist unnachgiebig – teils aus Überzeugung, teils aus Notwendigkeit. Der Film rügt dieses Verhalten nicht auf persönlicher Ebene, er lobt es aber auch nicht. Statt zu urteilen, zeigt er. Eine kühle Bildsprache und eine gewisse emotionale Distanz eröffnen Raum für Ambivalenzen. Und gleichen die hier nur angedeuteten Dramatisierungstendenzen des Drehbuchs ein wenig in Richtung Offenheit aus.
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