Verlorene Illusionen – Kritik

Ein ambitionierter Dichter verliert schon zwei Jahrhunderte vor der Fake-News-Debatte den Glauben an die Integrität des Journalismus. Xavier Giannolis Balzac-Verfilmung Verlorene Illusionen versprüht Routine, wäre aber eigentlich gern so wild wie der Wolf of Wall Street.

Verlorene Illusionen von Xavier Giannoli ist die Verfilmung des gleichnamigen, um 1840 verfassten Romans von Honoré de Balzac. Wir befinden uns im Frankreich der Restauration, einem kurzen royalistischen Intermezzo nach der Revolution und Napoleon, etwa um 1820. Roman und Film folgen dem jungen Lucien (Benjamin Voisin), der mit ehrgeizigen Dichterambitionen und schwer verliebt aus der Provinz nach Paris zieht. Die erste Liebe und die Literatur verliert er aus den Augen, stattdessen gerät er in ein Mahlwerk aus ökonomischen Zwängen, sozialen Versprechungen und charakterlichen Schwächen, vertreten durch das Zeitungswesen. Dreh- und Angelpunkt der Welt, in die Lucien eintritt, ist die Literatur- und Theaterkritik und die in ihrem Dunstkreis stattfindenden Stelldicheins mit schönen Schauspielerinnen, festlichen Soupers und die Intrigen zwischen Rivalen in der Liebe und der Kunst. Und eine der zahllosen Illusionen, die Lucien verliert, ist der Glaube an die Integrität des Journalismus.

Zwei Erzählstränge weniger

Die erste verlorene Illusion ist aber die, mit der Pariser Gesellschaft mithalten zu können. Unbarmherzig werden hier jene verlacht, die sich nicht (teuer) zu kleiden wissen, in der Oper mit dem Finger zeigen oder nicht die richtigen Leute kennen. Lucien und seine reifere Geliebte Madame de Bargeton (Cécile de France) lässt man ihre Unzulänglichkeiten spüren und sie entfremden sich in dem schäbigen Licht, indem sie einander an Paris gemessen erscheinen. Giannoli lässt diesem elitären Treiben wenig Anmut, das Gehässige und Übertriebene des Gebarens steht im Vordergrund. Nichtsdestotrotz ist die Ausstattung äußerst hübsch, die Kostüme üppig und die Milieus getroffen. Warum all das in ein entsättigtes Standardbild gepackt wurde, ist allerdings schwer nachvollziehbar. Generell zeugt die Inszenierung mehr von Routine als von Esprit, nur in manchen Momenten, in denen Luciens Taumel in der fremden Gesellschaft verbildlicht wird, gewinnt die Regie an Kraft – etwa in der gelungenen ersten Opernszene.

Verlorene Illusionen widmet sich dem Mittelteil von Balzacs dreiteiligem Roman und verändert die Geschichte nach Lust und Laune, und das ist gut so. Allerdings werden dabei zwei bedeutungsvolle Elemente der Buchvorlage entfernt. Zum einen Luciens Busenfreund und Schwager David, der mit Luciens Schwester daheimbleibt. Die beiden arrangieren sich mit einem Leben in provinzieller Armut, um Lucien glänzen zu sehen. Und zum anderen die Pariser Freundesgruppe, der sich Lucien zugesellt und die eine Utopie der freien Gedanken, des respektvollen Austauschs und dem Streben nach integrer Größe darstellt. Mit diesen beiden Erzählsträngen wird auch jede Gegenwelt zum journalistischen Moloch Paris fallengelassen. Luciens Irrungen erscheinen daher zwangsläufiger als noch im Buch; die verschiedenen Lebensentwürfe, Ideale und Charaktere erhalten kaum Gelegenheit, sich aneinander zu reiben, sich zu widersprechen und sich voreinander zu schämen.

Von Zeitungsenten und Brieftauben

Giannoli legt Wert darauf, Luciens Aufstieg in einen mediengeschichtlichen Umbruch einzubetten und betont die Neuheiten der Zeit: Das Werbeplakat hält Einzug, neue Rotationsdruckmaschinen machen verhundertfachte Auflagen möglich und die zivile Brieftaube verbreitet Lügen schneller als die Zeitungsente watscheln kann. Die Parallelen zum Influencer-Wesen und Falschnachrichten heutiger Zeit werden mit angemessener Zurückhaltung in Szene gesetzt, denn Balzacs für das 19. Jahrhundert ausbuchstabierte Erkenntnisse weiß Verlorene Illusionen auch so gut genug zu vermitteln: In der Praxis wirken nicht die Menschen, sondern die hinter ihnen stehenden ökonomischen Zwänge und Anreize.

Und: Meinung bildet sich nicht im freien Diskurs in Kaffeehäusern, sondern wird gemacht. Eine Figur, die der Film groß macht, ist der Claqueur Signali (Jean-François Stévenin), der den Meistbietenden tosenden Applaus oder vernichtendes Pfeifen für einen Theaterabend bietet. Nicht Qualität ist hier Maßstab, sondern welcher Schauspielerin man gerne gefallen möchte, welcher Autor einen beleidigt hat oder von welchem Verleger man gerne ein Angebot hätte. Alles verkommt zum Mittel und Kapital in dieser Welt: Die richtige Dosis an Talent bringt einen in die Redaktion, ein Lob bringt Freunde, Freunde bringen Ruhm und Protektion, ein gefeiertes Werk Geld. Verkörpern darf diese Prinzipien Gérard Depardieu als leseunkundiger Verleger Dauriat, dem es einerlei ist, ob er Bücher oder Ananas verkauft.

Die Last der Dialoge

Die Figuren sind blass und bisweilen plump geraten und ächzen unter der Last der schieren Dialogmenge, die ihnen zugemutet wird. Verlorene Illusionen gleicht damit bisweilen einem Lehrstück, das seinem Publikum das System des Journalismus (und anhand dessen den Kapitalismus) erklären möchte und gleichzeitig gerne die Wildheit eines Wolf of Wall Street hätte – ohne je dessen Virtuosität zu erreichen. Einzelne inszenatorische Einfälle könnten wundervoll geraten – wie die tatsächlich durch die Redaktionen stürmenden Zeitungsenten, die sich nicht einfangen lassen –, bleiben aber steif und arg kalkuliert. Die Verschiebung des Blicks auf Luciens Geschichte sorgt außerdem dafür, dass dieser Film weniger von den Illusionen handelt, die verlorengehen, als von einer Welt, die sich keine Illusionen macht.

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