Über die Unendlichkeit – Kritik
Männlichkeit gehört ins Museum: Auch in Über die Unendlichkeit zeigt sich Roy Andersson als totalitärer Herrscher in selbst gebauten Miniaturuniversen. Wie seine Filme funktionieren und wovon sie erzählen, kommt sich dabei manchmal auf verwirrende Weise nahe.

Es gibt viele Metaphern, um die sehr eigenen, sorgsam im Studio arrangierten, mit fixer Kamera gedrehten, weit kadrierten, extrem tiefenscharfen Einstellungen Roy Anderssons zu beschreiben: Vignetten, Tableaus, Gemälde, Stillleben. Am besten davon gefällt mir aber der nicht ganz so häufig verwendete Begriff „Diorama“. Denn auch wenn Andersson selbst in Interviews gerne darüber redet, dass er sich von der Malereigeschichte mehr als vom Kino inspiriert fühle, denke ich bei seinen Filmen weniger ans Kunst- denn ans Naturkundemuseum. Die Illusion, die Anderssons Bilder erzeugen, ist dem optischen Trick näher als der Erschaffung einer alternativen Wirklichkeit: geheuchelte Tiefe, keine Immersion. Wie beim frühen Kino ist jedes Bild eine Szene, ist jede Szene wie ein Guckkasten, der mit seinen virtuos gebauten Details protzt.
Es bleibt existenziell

Ich glaube auch, dass man mit der Diorama-Assoziation Anderssons jüngstem Film am meisten abgewinnen kann. Stärker noch als bei dem bereits existenzialistisch raunenden Vorgänger Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach (2014) (der auch teilweise in einem Museum spielte) werden in Über die Unendlichkeit (Om det oändliga) nämlich ziemlich offensiv Sinnfragen gestellt: ein Priester, der nicht mehr an Gott glauben kann, ein wimmernder Pendler, der nicht mehr weiß, was er tun soll, ein schluchzender Mann, der seine erstochene Tochter in den Armen hält, Hitler (sic!), der auf die letzte Bombe wartet. Samt und sonders sind das männliche Schicksale, männliche Zweifel, männliche Melancholien – und bis auf die, ehrlich gesagt, bescheuerte, weil heftig ethnisch stereotypisierende Szene mit der toten Tochter (es soll um Ehrenmord gehen) sind es alles männlich-weiße Fragestellungen.

Aber Andersson bannt eben diese Männer-Typen in Schaukästen, damit man sie angaffen und begutachten kann wie in einem verstaubten Heimatkundemuseum. Denkt man anfangs noch, hier würden deren altbekannte, sehr spezifische Sorgen und Nöte durch große Fragen und viel Nihilismus universalisiert, merkt man allmählich, dass sie viel eher eingesperrt werden in süßen, filigran gebauten kleinen Bildgefängnissen. Dadurch werden die ach so großen Probleme der westlichen Normkultur auf einmal ungemein putzig, und das Verzweifelte wird lächerlich. Ein Priester, der in einer von vorne bis hinten im Filmstudio gebauten, bis in den letzten Quadratmillimeter ausgestatteten Welt an der Existenz eines Erschaffers zweifelt, ist eben lustig.
Im Museum männlicher Neurosen

Der Film streut auch einige Hinweise, dass er eben so, als Musealisierung männlich-weißer Existenzängste, gelesen werden will. Zum Beispiel gibt es ein weibliches Voice-over, das alles, was man sieht, refrain-artig erläutert: „Ich sah einen Mann, der seinen Glauben verloren hatte“, „Ich sah einen Mann, der die Ehre seiner Familie verteidigen wollte und es später bereute“, „Ich sah einen Mann, der die Welt erobern wollte und gescheitert war“ (für Hitler). Alle die verzweifelnden Männer werden zu Antihelden einer allsehenden Erzählerin.

Zum anderen geistert so etwas wie der Hauch schwarzer Empfindsamkeit durch das Sounddesign des Films, wie Geisterstimmen der Erfahrungen derer, die aus den Bildern weitestgehend verbannt bleiben: Mal hört man leise Billie Holidays Gesang in einer Bar, ein andermal tanzen ein paar hippe Girls zu einem auf Schwedisch gesungenen Song der Delta Rhythm Boys. Solche Momente der Leichtigkeit sind dem insgesamt ziemlich schleppenden Film gar nicht fremd, und der meist extrem schwerfällige Downbeat-Humor wird hier und da sogar fast verschmitzt: Einmal besprüht eine junge Frau jedes Blatt einer Pflanze sorgsamst mit Wasser. Warum sie das tut, bleibt mysteriös. Ein Junge gafft sie dabei an. Warum er das tut, ist offensichtlich.
Take-away-Szenen

Diese sketchhaften Szenen werden von der Montage in der Zeit verteilt wie Ausstellungsstücke im Raum, ihre Reihenfolge ist weniger dramatisch-linear als lose und kontextuell. Der Schnitt folgt hier eher einer kuratorischen als einer erzählerischen Logik; assoziiert, stellt nebeneinander, bietet an. Manchmal wabert der Sound eines Bildes noch weiter, wenn das nächste kommt, und beide scheinen weniger in der gleichen Welt angesiedelt, als dass wir Zuschauende weiterbefördert wurden und die Geräusche eines Schaustücks noch beim Betrachten des nächsten nachhallten. Diese quasi objekthafte, fast warenförmige Beweglichkeit der Diorama-Bilder lässt ahnen, warum Roy Andersson ein enorm erfolgreicher Werbefilmer ist. Jeder Szenen-Einstellungs-Sketch kann für sich alleine stehen und mit allem möglichen verbunden werden: einem anderen Sketch, einem Produkt, einem Konzern. Fürs Kino wird die daraus resultierende Austauschbarkeit aber zunehmend ein Problem: Je mehr Andersson-Filme man schaut, desto schwerer werden sie zu unterscheiden.

Ich schaue Über die Unendlichkeit so weniger mit kontemplativem Genuss, auch nicht mit Spannung, sondern eher mit einer Mischung aus Neugierde und Langeweile – in etwa so, wie man eine Märklin-Welt begutachtet. Der hier wirkende Geist ist weitschweifend in seiner Kleingeistigkeit, detailversessen und plump zugleich. Wenn ich – und das passiert durchaus immer wieder – Ehrfurcht vor den nahezu totalitären Inszenierungen empfinde, dann bin ich ehrfürchtig weniger vor einem irgendwie gearteten künstlerischem Genie als vor virtuosem Handwerk. Und unglaublich viel Handwerk steckt in jeder Sekunde von Über die Unendlichkeit, wie in jedem der Filme mit Anderssons Namen: Der Abspann listet Dutzende Szenen- und Kostümbilder*innen, Austatter*innen und Make-up-Artists auf. „Roy Andersson“ sollte man daher wahrscheinlich besser als Chiffre für eine Kunstproduktion und nicht als einen Autorennamen verstehen – so wie Ai Weiwei oder Olafur Eliasson. Eine Marke. Dass aber er als der große Autor gefeiert und – auch in diesem Text – beschrieben wird, ist dann wieder so ein Problem, über das er vielleicht mal einen Film machen könnte.
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