Totem – Kritik
Ja, auch in Deutschland werden noch verstörende kleine Filme ohne Förderung gedreht. Jessica Krummacher inszeniert mit ihrem Abschlussfilm einen kleinbürgerlichen Albtraum.

Im narrativen Film werden meist Situationen geschaffen, die das Publikum möglichst schnell richtig einschätzen kann. Unbewusst sucht jeder Zuschauer nach Hinweisen in Sprache und Bild, um dem Ganzen einen übergeordneten Sinn zu verleihen. So wird den Fragen nachgegangen, in welchem Rahmen die Figuren agieren, wie sie zueinander stehen oder was sie antreibt. In Totem von Jessica Krummacher zieht sich der Prozess des Suchens fast durch den gesamten Film. Immer wieder versucht man sich in dieser seltsamen Welt zurechtzufinden und die Handlungen der Figuren einzuordnen.
Fiona (Marina Frenk) ist ein Fremdkörper im Reihenhaus der Familie Wagner. Beim Abendessen umschwänzeln die angetrunkenen Familienmitglieder das stille Mädchen. Besonders der Vater (Benno Ifland) und ein jüngerer Freund der Familie zeigen Interesse. Am nächsten Tag sehen wir, dass Fiona das neue Hausmädchen ist. Sie ist vor allem da, um die schwer gestresste Mutter Claudia (Nadja Brunckhorst) zu entlasten. Zunächst dominiert die Monotonie des Alltags. Doch immer häufiger treten latente Aggressionen hervor. Die vermeintlich harmlose Fiona schimpft, während sie den Boden putzt, über die Familie, und auch die Eltern erweisen sich als äußerst unberechenbar. Und dann gibt es noch eine ältere Dame, die Fiona unentwegt hinterher spioniert.

Jessica Krummacher ist Absolventin der Münchner Hochschule für Fernsehen und Film und hat mit Totem einen beachtlichen Abschlussfilm gedreht. Von den häufig so braven Erstlingswerken grenzt sie sich deutlich ab. Krummacher kreuzt einen nichts beschönigenden Sozialrealismus mit Elementen des Horrorfilms und lässt dabei viele Fragen offen. Was hier objektive Beobachtung oder individuelle Wahrnehmung ist, Realität oder Traum, lässt sich schwer sagen. Einmal fordert die Mutter Fiona in der Küche zum Tanzen auf, und auf dem Boden krabbelt ein Skorpion an ihren Füßen vorbei. Davor erzählte Sohn Jürgen, dass Skorpione die einzigen Tiere sind, die sich selbst töten können, wenn sie von Feuer umgeben sind.
Die Mutter erweist sich nach einer Weile als zutiefst depressiv, bekommt aber auch Wutattacken, die sich gegen Fiona richten. Dieses ständige Wechselspiel aus Arbeitsverhältnis, elterlichen Gefühlen und körperlichem Missbrauch wird besonders in einer Szene mit dem Vater auf sehr beklemmende Weise deutlich. Da wird gescherzt und geflirtet, wegen einer umgekippten Flasche gestritten, und schließlich kommt es fast zu einer Vergewaltigung. Das Böse tritt hier sehr unvermittelt hervor.

Die Figuren in Totem haben alle ausgesprochen spitze Ecken und Kanten. Wie Krummacher das Hässliche der Menschen offen zeigt, ohne aus ihnen eine Karikatur zu machen, erinnert an die Filme von Ulrich Seidl. Darüber hinaus setzt sie überwiegend auf Darsteller, die entweder Laien sind oder sich den Manierismen ihres Berufs weitgehend entzogen haben. Am bekanntesten ist noch Nadja Brunckhorst, die einst Christiane F. verkörperte und hier auf gruselige Weise zeigt, wie sich der Wahnsinn konsequent aus kleinbürgerlicher Normalität entwickelt.
Fiona steht zu ihrer Gastfamilie in einem sadomasochistischen Abhängigkeitsverhältnis. Warum sie sich das alles antut, bleibt offen. Ihrer Mutter lügt sie am Telefon vor, sie sei am Meer, später wirft sie das Handy weg. Mit der Zeit scheint sich der Wahnsinn der Familie auch auf Fiona zu übertragen, wobei „Wahnsinn“ sich hier vor allem als Bruch mit gesellschaftlichen Konventionen verstehen lässt. Eines Nachts geht Fiona mit dem Kinderwagen nach draußen und macht sich dadurch gleich bei der Polizei verdächtig. In dieser surrealen Provinzwelt im Ruhrgebiet muss alles seine Ordnung haben.
Krummacher hat sich vom sozialen Melodram, von übertriebener Figurenpsychologie und ständigem Erklärungszwang frei gemacht. Sie lässt die Ambivalenzen Ambivalenzen sein. Sicher ist nicht alles an ihrem Film durchweg gelungen, manches etwas gewollt: der lyrische Voice-over etwa, in dem Fiona die Unsinnigkeit beschreibt, jeden Tag aufs Neue sauber zu machen, und auch das Ende ist etwas spektakulärer geraten, als es notwendig gewesen wäre. Doch mit solchen Kleinigkeiten sollte man sich bei so einem eigentümlich störrischen Film nicht aufhalten. So lange es Abschlussfilme wie Totem gibt, muss man sich über den filmischen Nachwuchs in Deutschland zumindest keine Sorgen machen.
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