Tori & Lokita – Kritik
Mithilfe zweier junger Geflüchteter wenden sich die Dardennes diesmal Belgiens Migrationspolitik zu. Tori und Lokita stellt nicht nur einen Richtungswechsel im Spätwerk der Brüder dar, sondern auch ihren tradierten Humanismus vor eine Herausforderung.

Seit gut drei Dekaden haben Jean-Pierre und Luc Dardenne die Idee des filmischen Realismus geprägt und festivalfertig gemacht. Seit Young Ahmed (2019), möglicherweise der Beginn ihres Spätwerkes, baut sich allerdings vermehrt kritischer Widerstand auf. Ausschlaggebend dafür ist, dass sich der Fokus auf die Figuren verändert hat. Sind alle Dardenne-Protagonisten am Rande der Gesellschaft verortbar (als Schmuggler, Drogenabhängige oder Schichtarbeiter), so besaßen sie bis dato alle die belgische Staatssangehörigkeit – selbst Ahmed, dessen Ideologie sich aktiv gegen den Staat richtet. Dies ändert sich in Tori und Lokita – es ist nicht der einzige Film, den die Dardennes über die belgische Immigrationspolitik gemacht haben (siehe La Permesse, der den Fokus aber noch auf den weißen Schmugglersohn legt), aber der erste, in dem die Figuren Migranten sind, die Teil Belgiens werden wollen.
Dealen und Blowjobs

Die Einbürgerung scheitert bereits im ersten Frame – Lokita (Joely Mbundu) in einer Nahaufnahme, aus dem Off die Fragen der Bürokraten, die versuchen, Löcher in ihrer Geschichte zu finden. Lokita verstrickt sich, wird nachgeladen, bekommt letzten Endes nicht die Staatsbürgerschaft, die ihrem „Bruder“ Tori (Pablo Schils) als ehemaligem Hexenkind gewährt wurde. Tori stellt den Staat in Frage, aber bekommt nur einen abgeschnittenen Bürokratentorso zu sprechen, der erneut die geschwisterliche Beziehung in Frage stellt.

Und tatsächlich: Lokita und Tori sind im biologischen Sinne nicht Bruder und Schwester, was ihr Verhältnis aber nicht weniger familiär macht. Sie haben sich auf dem Weg nach Belgien kennengelernt – er aus Benin, sie aus dem Kamerun – und beschlossen, im Leben gemeinsam weiterzugehen und das ist alles, was der Film sich als Hintergrund entlocken lässt. Familie wird trotz dieser sprachlichen Flexibilität mit Härte durchgesetzt. Firmin (Marc Zinga), der die beiden aus Italien nach Belgien geschmuggelt hat und jetzt das noch fehlende Geld wortwörtlich von ihren Körpern reißt, nennt Lokita immer Schwester. Ihre eigene Mutter, der Lokita regelmäßig Geld für sich und ihre fünf Brüder schickt, wirft ihr vor, zu sehr an sich zu denken.

Wie so oft in den Filmen der marxistischen Dardennes ist das Geld Dreh- und Angelpunkt für alle sozialen Interaktionen. Tori und Lokita singen in einem Restaurant Karaoke, dealen aber eigentlich für den Koch. Pro Tour bekommen sie 50 Euro und ein Foccacia. Ihre Handys werden als Pfand deponiert. Für einen Blowjob bekommt Lokita nochmal 50 extra. Als Firmin ihr die 100 Euro wieder wegnimmt und Lokita den Tränen nahe um etwas Geld für ihre Mutter fragt, leiht er ihr einen Zwanziger. Tori und Lokita ist ein Film, in dem selbst die Gewinne zu wortwörtlichen Verlusten werden.
Von der Idee zum Statement

Nachdem Lokita das Visum verwehrt wird, lässt sie sich von dem Koch für drei Wochen in ein Grow House einsperren, um sich um dessen Kannabispflanzen zu kümmern. Während der gesamten Zeitspanne ist ihr der Kontakt mit der Außenwelt und damit auch mit Tori entsagt, was für beide einen unzumutbaren Zustand darstellt und letzlich den Film eskalieren lässt.

Wo die Filme der Dardennes sonst sehr frei mit Genre-Elementen gespielt, werden diese hier forciert, die Bewegungsfreiheit der Figuren eingeengt, was sie zwingt, neue Wege zu finden. Die Nähe der Dardennes zum französischen Körperkino findet sich hier wieder in der mentalen und physischen Wendigkeit von Tori. Je mehr der Film sich zuzuiehen beginnt, desto gewiefter sind die Lösungen, die Tori findet. Lokita hingegen wird mehr und mehr zu einer Idee, die bis zum Ende durchdacht wird, bis sie ein Statement über das Scheitern der Immigrationspolitik darstellt. Diese erstmal legitime ästhetische Entscheidung wendet sich allerdings gegen den eher christlichen Humanismus, mit dem die Dardennes ihre früheren Figuen geschrieben haben. Es ist wohl noch zu früh für eine klare Einordnung, aber Young Ahmed und Tori und Lokita stellen einen grundlegenden Richtungswechsel in der Auswahl der Subjekte der Dardennes dar, der Konsequenzen hat: Ihre Politik (oder ihre Verzweiflung über die große Politik) können sie nurmehr mit einer gewissen narrativen Radikalität ausdrücken.
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Tom Pisa
Herausragender Film, ohne Platitüde. Immigiration und Ausbeutung als System immanentes Prinzip.
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