Tokyo Vice – Kritik
VoD: Nüchterner Kapitalismus und mafiöses Copacabana. Ein aufstrebender US-Journalist ermittelt im Vergnügungsviertel Kabukicho zwischen Yakuza und korrupten Cops. Michael Mann baut in der Pilotfolge von Tokyo Vice eine Welt, der sich seine Regie-Nachfolger nicht mehr entziehen können.

Eines vorweg: Tokyo Vice ist im strengen Sinne keine Michael-Mann-Serie. Sein Name dient letztlich mehr als Werbemaßnahme, Mann wird nach der ersten Folge nur noch als ausführender Produzent angekündigt, so wie die anderen involvierten Hollywood-Leute, Ken Watanabe und Ansel Elgort, auch. Viel zu selten kommt es vor, dass Serien durchgängig mit einer Regie-Handschrift gedreht werden. Die dritte Twin-Peaks-Staffel war da ein großes Glück, hat sie doch das Potenzial gezeigt, das in der Idee der Serie als überlanger Film steckt. Mann gibt nun, inzwischen für einen großen Namen üblich (Martin Scorsese bei Vinyl, Baz Luhrmann bei The Get Down), nach der Pilot-Folge den Regiestuhl ab. Und tatsächlich kommen seine Nachfolger Hikari, Josef Kubota Wladyka und Alan Paul danach nur selten noch an die Elektrizität und Kinetik heran, die Manns stilbewusste Bilderwelten selbst dort entwickeln, wo der Plot noch gar nicht weit genug fortgeschritten ist, um die großen Geschütze des Action-Genres auszufahren. So wird da etwa eine schnöde Aufnahmeprüfung so aufregend inszeniert wie sonst ein raid der Polizei. Bis zum Ende seines einstündigen Beitrags zur Serie hat Mann aber immerhin sein Können auch in das world building, in ein ganzes spätkapitalistisches Tokyo am Ende der 1990er Jahre samt Gesellschaftskonstellation, gelegt, dem sich seine Nachfolger nicht mehr entziehen können.
Lohnarbeiter auf dem Markt der Kriminalität

Tokyo Vice im weiteren Sinne mit der Filmografie Michael Manns in Verbindung zu bringen, scheint nach der ersten Folge durchaus berechtigt. In den bis aufs Letzte durchrationalisierten, auch schon ästhetisch clean durchleuchteten Büroräumen der japanischen Tageszeitung Meicho Shimbum sind unweigerlich jene professionellen Welten aufgespeichert, die auch sonst Manns Kino bevölkern. Professionalität samt passendem Ethos, versteht sich: Als der aufstrebende, aus den USA stammende Journalist Jake Adelstein (Ansel Elgort) das Redaktionsbüro betritt, muss er erstmal mit der strengen Artikel-Form der Zeitung, der statischen Abfolge der Beantwortung von ‚Wer?‘, ‚Wo?‘, ‚Wann?‘ und ‚Was?‘ vorliebnehmen. Und weil dieser Jake Adelstein die japanische Gesellschaft besser verstehen will, zeigt ihn Mann in der Einführungsmontage zwischen Dojos, Suppenständen und hell erleuchteten Reklamelandschaften noch schnell beim Lesen über das japanische Wirtschaftssystem.

Manns Filmwelt handelt oft von solchem Rationalismus, den er vor allem über seine Figuren, am klarsten bei seinen Gangstern, auslebt. Der Kulturwissenschaftler Mark Fisher hat da den Vergleich zu Manns Altersgenossen Scorsese und Coppola gezogen: Ein Mann’scher Gangster ist kein Mafia-Boss, niemand, der sich nach heiligen Regeln und Traditionen, wie denen der katholischen Kirche, richtet, um sich dann in blutigen Fehden aufzureiben. Scorsese und Coppola zeigten in ihren Filmen demnach eher vormoderne Residuen innerhalb einer modernen, bürgerlichen Gesellschaft, die nach Marx „den Arzt, den Juristen, den Pfaffen, den Poeten, den Mann der Wissenschaft in ihre bezahlten Lohnarbeiter verwandelt“ hat. In Filmen wie Thief (1981) und Heat (1995) reihte Mann den Gangster dort mit ein, machte ihn zum Lohnarbeiter auf dem Markt der Kriminalität.
Copacabana und Kapitalismus

Umso erstaunlicher, dass Mann sich nun mit Tokyo Vice in die Unterwelt der japanischen Mafia begibt und das auch noch in einem bewusstem Move: Wenn seine Kamera das erste Mal von den geschäftigen Büros der Presse und Polizei ins von den Yakuza geregelte Nachtleben abdriftet, dann wird direkt ein unterhaltender Sänger auf der Bühne fokussiert, bewegt sich der Blick um die vereinzelten Tische herum, mischt sich ordentlich mythisches Copacabana in den nüchternen Kapitalismus. Tokyo Vice baut vor uns eine japanische Hauptstadt auf, in der sich die scheinbar bewussten und rationalen Aufgaben von Polizei und Presse wieder in heilige Glaubenssätze verwandelt haben. Die Berichterstattung der Zeitungen spart das investigative ‚Warum?‘ prinzipiell aus, und bei der Polizei gilt der Grundsatz „Our job is to clear cases,“ und das heißt: regelmäßig gemeinsam mit den Yakuza eine Verhaftung inszenieren, von der die Tageszeitungen dann im ‚Wer-Wo-Wann-Was-Modus‘ berichten können.
Pervertiertes Regelwerk

Die Mafia ist für Exekutive und Vierte Gewalt hier weniger Feindbild als normaler gesellschaftlicher Akteur, der auch die anderen wie eingeschworene Banden aussehen lässt, die alles einvernehmlich unter sich aufteilen. Ungewohnt konsequent dreht sich Tokyo Vice eher um das barbarische Spiel als um den verrohten Spieler (wie etwa Breaking Bad oder House of Cards). Der tragende Konflikt um die Figuren ergibt sich zwar ganz klassisch aus dem Brechen der Regeln. Aber wenn das Regelwerk pervertiert ist, erzeugt sich die Spannung nicht entlang der Abwärtsspirale, sondern um die Frage herum, wer es trotz allem schafft, integer zu bleiben, und was das im totalen Korruptionssumpf überhaupt noch heißen kann.

Jake mit seinem Versuch, doch noch so etwas wie einen der Wahrheit verpflichteten, investigativen Journalismus zu betreiben, ist der Kronzeuge dieses Prinzips. Tokyo Vice treibt seine Bewegung klug über sich hinaus, verfolgt diese Figur mit einer solchen Konsequenz durch die neonleuchtende Großstadt, die sie doch wieder in das mafiöse Tauschprinzip der gegenseitigen Gefallen treibt. Die amerikanische Hostess Samantha (Rachel Keller) ‚entflieht‘ mit ihrem Job im Nachtclub Onyx einer religiösen Sekte und bewegt sich stattdessen in eine Liaison mit dem aufsteigenden Yakuza Sato (Sho Kasamatsu). Auch Ken Watanabes unbestechlich erscheinende Kommissar-Figur Katagiri muss sich öfter mit dem furchteinflößenden Ishida (Shun Sagata) an den Tisch setzen, um dem konkurrierenden Clan von Shinzo Tozawa (Ayumi Tanida) das Handwerk zu legen. Letzterer bringt zwar so einiges an klassischem Mafia-Flair in die Serie, ist aber als von außerhalb kommender, noch skrupelloserer Gegenspieler so etwas wie eine Inkonsequenz dieser Serie, die doch sonst stringent und komplex von der zum geschlossenen System gewordenen Gewalt mitten im alltäglichen Geschäft der japanischen Hauptstadt erzählt.
Die 1. Staffel der Serie steht bis 23.03.2024 in der ARD-Mediathek.
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