Thumbsucker – Bleib wie du bist! – Kritik

Der pubertäre Justin versucht, seinen eigenen Weg des Erwachsenwerdens zu finden und reißt dabei seine Mitmenschen mit hinein in den Strudel der Selbstfindung. Hinreißend.

Thumbsucker

Daumenlutscher - der Titel führt direkt in die Thematik des Films: Justin (Lou Pucci), 17 Jahre alt, hat ein Problem, oder genauer gesagt, seine Mitmenschen haben ein Problem mit seinem, wie sie finden, peinlichen und in seinem Alter unangebrachten Laster. Denn Justin kann es nicht lassen, in stillen Momenten seinen Daumen in den Mund zu schieben und genüsslich daran zu lutschen. In diesen Augenblicken des Glücks ist er eins mit sich und seiner Welt, schwebt auf der Leinwand und in seinen Träumen durch rosarote Wolken, und vollkommene Zufriedenheit zeichnet sein Gesicht.

Doch zu schön wäre es und auch zu einfach für die Story, hätte diese Harmonie Bestand. Eltern wie Lehrer setzen Justin unter Druck, schicken ihn zu Ärzten und berufen Familienräte ein, selbst sein jüngerer Bruder zieht ihn beständig „wegen dieser Sache“ auf. Erwartungsgemäß erfolglos bleiben all die Therapieversuche, lediglich Justins Selbstzweifel werden mit jedem Mal stärker, der Zug am Daumen umso fester. Als Justins Zahnarzt (Keanu Reeves), mit seinem allgemeinmedizinischen Latein ebenfalls am Ende, zu tiefenpsychologischen Heilmethoden greift und den hartnäckigen Patienten kurzerhand hypnotisiert, fangen die Probleme jedoch erst so richtig an.

Thumbsucker

Der Entwicklungsweg des Protagonisten steht in Thumbsucker eindeutig im Vordergrund. Dennoch lassen die sehr speziellen, zwischenmenschlichen Verquickungen der Figuren untereinander die Geschichte von Anfang an zu einem Porträt einer Gemeinschaft werden und machen mehr aus dem Film als lediglich die Darstellung eines verworrenen Teenagerlebens in einer amerikanischen Kleinstadt. Denn nicht nur Justin zweifelt an sich und seiner Eigenart. Als Audrey, Justins Mutter (Tilda Swinton), sich für ein Preisausschreiben zu bewerben versucht, denn immerhin gibt es ein Treffen mit dem Star ihrer Lieblingsserie zu gewinnen, bleibt das Blatt vor ihr lange Zeit weiß. Die einsam darüber prangende Überschrift verrät warum: „meine besonderen Eigenschaften“. Sie bittet den Sohn, ihr zu helfen: „Du kannst das doch so gut“.

Thumbsucker

Besonders, ja das ist Justin, daran bleibt kein Zweifel. Nach dem Entzug des Daumens folgt sogleich die nächste Reifephase: der Zappelphilipp. Heute nur noch selten gebraucht, benennt diese Umschreibung ein Phänomen bei Jugendlichen, das gegenwärtig als das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom oder auch Hyperaktivitätsstörung gelegentlich in den Schlagzeilen auftaucht. Der Betroffene legt bei diesem Krankheitsbild ein auffällig aggressives Verhalten an den Tag. So auch Justin, der für die Vertreibung aus dem Paradies an seinem Kieferorthopäden Rache übt. Die daraufhin angesetzten Medikamente unterscheiden sich angeblich in nur drei Molekülen von Kokain und verwandeln Justin in einen selbstsicheren, wissenshungrigen Vorzeigeschüler, der Klassenkameraden wie Lehrer im Debattierkurs argumentativ weit hinter sich zu lassen weiß. Doch die nächste Wandlung lässt nicht lange auf sich warten: zunächst eiskalter Entzug, dann die erste große Liebe.

Thumbsucker

Phantasiewelten und Wirklichkeit verschmelzen in Thumbsucker zuweilen bis zur Ununterscheidbarkeit. Nicht nur auf der Bildebene geben die eingestreuten Traumsequenzen verklärter Orte dem Film eine bezaubernde Note, sondern auch akustisch betört Thumbsucker mit einem atmosphärischen Soundtrack. Mike Mills, der mit diesem Werk sein Spielfilmdebüt absolviert, beweist hierin guten Geschmack. Es überrascht durchaus nicht zu hören, dass er bislang vor allem als Grafikkünstler und Werbefilmer tätig war und unter anderem Plattencover für Sonic Youth und die Beastie Boys oder Musikvideos für die Gruppe AIR gestaltete. Ebenso überzeugt die Wahl der Schauspieler. Neben Keanu Reeves als esoterischem Zahnarzt begeistert vor allem Tilda Swinton als Justins Mutter sowie Vince Vaughn, der den engagierten Collegelehrer mit glaubhafter Lakonie dem Leben gegenüber spielt. Für seine erste Hauptrolle als Justin erhielt Lou Pucci 2005 den Silbernen Bären der Berlinale.

Dem in Thumbsucker versammelten Ensemble prominenter Schauspieler gelingt das kleine Kunststück, ihre Figuren, die zu den Standardtypen des amerikanischen Teenagerfilms gehören, mit einer jeweils individuellen Note auszustatten und sie auf diese Weise aalglatt an ihren filmischen Vorbildern vorbeizuspielen. Zusammen mit den phantasievoll komischen Bilderwelten gelingt Mike Mills mit Thumbsucker eine augenzwinkernde Komödie über das ganz Besondere in jedem von uns.

 

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